Predigt "Dein Reich komme"

Matthäus 6, 10a

am 10. November 2024 in St. Johannes, Ingolstadt

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! Diese Tage im November haben es in sich. Viele geschichtliche Ereignisse fanden im Umkreis des heutigen Datums statt: 1918 das Ende des deutschen Kaiserreichs. Sechs Jahre später in München der Putschversuch Hitlers, der blutig scheiterte. 1938 die Pogromnacht mit dem Sturm auf Synagogen und jüdische Geschäfte, in der das Dritte Reich seine hässliche Fratze zeigte. Und die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, als die Mauer in Berlin fiel und ganz Deutschland im Freudentaumel war. Ein Jahr darauf war die DDR Geschichte und kurze Zeit später auch die gesamte Sowjetunion. Was für Ereignisse! Ihre Spuren wirken bis heute nach. Ob auch diese Novembertage 2024 in die Annalen der Geschichte einmal eingehen werden? Die Zukunft wird es zeigen. Und dann noch Eines: Vor 60 Jahren wurde diese Kirche eingeweiht, – und ich predige heute hier über die zweite Bitte des Vaterunsers:   

„… dein Reich komme.“  

 

Dazu zwei Vorbemerkungen: Zunächst: Eigentlich sind diese Worte nicht dazu bestimmt, dass man darüber predigt und sich viele schlaue Gedanken macht. Sie sind zum Beten da. Und wenn dennoch darüber gepredigt wird, dann nur, dass dadurch unser Gebet bewusster und intensiver werde. Ich schlage deshalb vor, dass wir jetzt erst einmal gemeinsam betend diese drei Worte sagen: Dein Reich komme. – Dein Reich komme.

 

Ein Zweites: Haben wir eben gespürt, dass dieser Satz ganz anders klingt, wenn er miteinander gesprochen wird? Natürlich ist jedes Gebet sinnvoll und richtig, auch wenn es nur ein Einzelner sagt. Aber vergessen wir nicht: das Vaterunser ist ein Gemeinschaftsgebet. Wir sind dadurch verbunden mit den Menschen links und rechts von uns, mit allen hier im Raum, ja mit allen Christen in der weiten Welt. „Du unser Vater, dein Reich komme.“ Das ist dann kein unsicheres Gestammel eines einsamen, müden, zweifelnden Herzens. Da steckt eine ganz andere, himmelsstürmende Kraft dahinter und trägt uns, dich und mich, in aller unserer Schwachheit.

 

Dein Reich komme. –  Und dabei richtet sich unser Blick auf das Kreuz hier über dem Altar. Ja, ein Kreuz, und zugleich zeigt es Christus als den auferstandenen und wiederkommenden Herrn, umgeben von Engeln und einem Regenbogen und mit der Erdkugel zu seinen Füßen. Das ist das Ziel deines und meines Lebens, das letzte Ziel allen Weltgeschehens, mag alles noch so wirr und beängstigend sein: Christus hält Zeit und Ewigkeit in seinen Händen, und sein Reich hat kein Ende. Es ist kein Zufall, dass 1964, als es um die Gestaltung des Altarraums ging, genau dieses Motiv gewählt wurde. Ähnlich wie auch in vielen anderen Kirchen aus jener Zeit wird Christus dargestellt als Weltenherrscher, so wie ihn die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch der Bibel, schildert. Die Gemeinde, die sich damals vor ihm versammelte, hatte den Nationalsozialismus mit seiner menschenverachtenden Ideologie erlebt und erlitten, bangte in den Bombennächten um ihr Leben und hatte Tote, viele Tote zu betrauern, Es waren Menschen darunter, die man aus ihrer Heimat vertrieben hatte und die allzu oft nicht gerade willkommen geheißen wurden. Und trotz des Wirtschaftswunders der sechziger Jahre und dem Aufstieg Ingolstadts zum Industriestandort verunsicherte der Kalte Krieg und das Wettrüsten der Großmächte die Bevölkerung. Und diese Gemeinde betete: Vater im Himmel, dein Reich komme. – Nun sitzen wir heute hier und sprechen ebenfalls diese Worte, sitzen hier in einer Welt, die ebenfalls aus den Fugen zu geraten droht: Umweltzerstörung und Klimawandel, Krieg und Terror, Corona- und Wirtschaftskrise. Veränderungen in Gesellschaft und Kirche, und wissen nicht, was sonst noch alles kommen mag, ganz zu schweigen von den ganz persönlichen Krisen und Katastrophen. Aber wir sollen und dürfen beten: Dein Reich komme.  

 

Ich will dazu noch ein anderes Bild gebrauchen: Am vergangenen Wochenende war ich bei meinem Sohn in Murnau am Staffelsee. Wir hatten geplant, mit der Sesselbahn auf einen Berg, das Hörnle, zu fahren. Dichter Nebel ließ alles Grau in Grau erscheinen. Es war kalt, feucht, und wir froren. Immer höher ging es, von Stütze zu Stütze, aber der Nebel blieb. Da, kurz vor der Bergstation, rissen die Schleier auf, der blaue Himmel wurde sichtbar, die Sonne schien, es wurde warm. Wir waren oben. Der Blick ging in die Weite, unten in den Tälern ein Wolkenmeer, vor uns die Zugspitze und alle anderen Gipfel ringsum, ein einzigartiger Ausblick. Ist das nicht ein Sinnbild für unser Leben? Überall Nebel, Ungewissheit, Kälte. Und wir sind unterwegs, nach oben. Dort scheint die Sonne schon. Das Reich Gottes ist uns schon gewiss, auch wenn wir fragen, ob denn das Dunkel ewig dauern wird, - bis plötzlich die Wolkendecke reißt und wir ihn sehen, Christus sehen, so wie er uns schon längst gesehen hat. Immer wenn die ersten Christen Abendmahl feierten, beteten sie auf Aramäisch, der Umgangssprache zurzeit von Jesus: Maranatha – „Herr, komm!“ Oder man kann es auch übersetzen: „Unser Herr kommt.“ Beides ist richtig. Und mit einem solchen Maranatha endet auch die Bibel auf ihrer allerletzten Seite: „Siehe, ich komme bald. – Amen, ja komm, Herr Jesus.“

 

Aber ist diese Sehnsucht und der Ausblick auf das kommende Reich Gottes nicht auch gefährlich? Macht es uns nicht gleichgültig gegenüber allem Geschehen auf dieser Erde, entsprechend dem Motto: Das berührt mich nicht mehr, es geht ja doch sowieso alles einmal kaputt? Manche werfen das den Christen auch immer wieder vor, und tatsächlich gibt es Leute, die so glauben und leben und sich dabei noch für besonders fromm halten. Aber es ist in Wirklichkeit verantwortungslos und auch zutiefst glaubenslos. Wer sich nach dem Reich Gottes sehnt, der blicke auf Jesus und wird von ihm eines Besseren belehrt: Er kam nicht, um die Menschen nur auf das Jenseits zu vertrösten. Er heilte, tröstete, richtete Gebeugte auf, nahm sich der Ausgestoßenen an und trieb Dämonen aus. „Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“ In seinen Worten und Taten leuchtet schon etwas auf von jenem letzten Ziel, das Gott mit allem hat. In ihm ist das kommende Reich Gottes zugleich auch schon gekommen, zwar noch verborgen und nicht auf dem ersten Blick erkennbar. Aber es ist erfahrbar, es ist da. Und es wird auch heute schon zur Gegenwart, wo Menschen sich von Jesus berühren lassen und bereit sind, seinen Weg mitzugehen.

 

Wer betet: „Dein Reich komme“, der protestiert gegen eine Welt, in der nur Macht, Ruhm und Geld etwas zählen. Der kann nicht schweigen, wo die Menschwürde mit Füßen getreten und die Zukunft der Schöpfung dem Eigennutz Weniger geopfert wird. Der lässt sich nicht entmutigen von den Spielregeln der Herrschenden und er traut der Kraft der Liebe Wunder zu. Wo immer Hungrige etwas zu essen bekommen und Verzweifelte neuen Mut fassen, wo Weinende wieder lächeln können und Fremde eine neue Heimat finden, wo Zerstrittene Versöhnung feiern und Schuld vergeben wird, und wo Sterbende getröstet und im Frieden einschlafen, – da leuchtet jetzt schon etwas auf von dem Reich Gottes, hier mitten unter uns.   

 

Ist aber das alles, das kommende und doch schon gegenwärtige Reich Gottes, nur eine Utopie, ein Wunschtraum, der nie in Erfüllung geht? Jesus ist für dieses Ziel in die Welt gekommen, ist dafür ans Kreuz gegangen, und Gott hat durch seine Auferstehung besiegelt: es war nicht umsonst, am Ende siegt die Liebe. Sind auch wir bereit, ihm dabei zu folgen? Jesus lädt uns dazu ein, so wie er schon in seiner ersten Predigt, gleich am Beginn seines Wirkens, seine ganze Botschaft mit diesen Worten zusammenfasste: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“

 

Übrigens: Wisst ihr, dass heute auch der Geburtstag Martin Luthers ist? Darum will ich schließen mit seiner Auslegung der zweiten Vaterunser-Bitte im Kleinen Katechismus:   

 

Dein Reich komme.

Was ist das?

Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, dass es auch zu uns komme.   

Wie geschieht das?

Wenn der himmlische Vater seinen Heiligen Geist gibt, dass wir seinem heiligen Wort durch seine Gnade glauben und danach leben, hier zeitlich und dort ewiglich.

Amen.


Predigt über Kolosser 4, 10

am 13. Oktober 2024

in St. Markus und im Gemeindehaus Ingolstadt

Rudolf Potengowski

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!

Wie ihr wisst, findet am kommenden Sonntag die Wahl für den neuen Kirchenvorstand statt. Die Kandidatinnen und Kandidaten unserer Gemeinde haben sich bereits bei verschiedenen Gelegenheiten vorgestellt, und vermutlich haben auch schon mehrere von euch ihre Briefwahlunterlagen abgesandt. Nun wurde ich in den letzten Tagen auf einen interessanten Mann aufmerksam, von dem ich dachte: Eigentlich könnte man diesen doch auch noch auf die Kandidatenliste setzen. Gut, die Frist zur Benennung von Namensvorschlägen ist längst abgelaufen, aber es ließe sich vielleicht doch noch eine Lösung finden, etwa im Rahmen einer Nachberufung. Aber denkt einmal selbst darüber nach. Am besten, der Betreffende stellt sich persönlich euch vor, und ich will ihm dazu meine Stimme leihen:

 

(Markus) Hallo, liebe Gemeinde, ich grüße euch ganz herzlich. Schön, dass ich heute in eurer Mitte sein kann. Eigentlich gehöre ich zu einer ganz anderen Zeit. Ich komme aus dem ersten Jahrhundert der frühen Christenheit. Ich bin aber überzeugt: wenn es um das Leben und die Probleme in der heutigen Kirche geht, dann könnte ich dazu auch meinen Beitrag leisten, Außerdem: Was ist schon Zeit im Reich Gottes? Sind vor Gottes Ewigkeit nicht Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft letztlich alle eins?       

 

Also: Ich heiße Johannes Markus. Ein Doppelname, ein guter Name für einen Christenmenschen: Johannes, das ist hebräisch und bedeutet: Gott ist gnädig. Und Markus, lateinisch, bedeutet: Kämpfer. Gnade und Kampf – beides ist wichtig im Leben, und besonders, wenn man Verantwortung in einer Gemeinde übernimmt. Es ist so wie mit unseren beiden Beinen, auf denen wir stehen und gehen. Gnade – alles ist Gnade: Dass wir leben, geliebt sind, dass Gottes Barmherzigkeit kein Ende hat, selbst, wenn wir scheitern und schuldig werden. Und Kampf – ja, das Leben und auch der Glaube ist Kampf. Wir sind nicht in einer heilen Welt. Immer wieder neue Probleme tun sich auf, nah und fern und auch in der Kirche. Sie fordern unsern ganzen Einsatz, viel Zeit und Kraft, Phantasie und Herzblut. Und der schwerste Kampf ist wohl der, den wir in uns und mit uns selbst auszutragen haben. Ich bringe in beidem, Gnade und Kampf, viel Erfahrung mit.

 

Ich stamme aus Jerusalem. Meine Mutter, Maria hieß sie, besaß dort ein größeres Anwesen. Ich erinnere mich noch daran, wie sich in unserm Haus die Freude von Jesus immer wieder zum Gebet trafen. Auch Petrus war gelegentlich dabei. Und mein Onkel Barnabas. Begeistert erzählte er uns immer, was er von Jesus wusste, und wir hörten ihm stets ganz gespannt zu. Ja, der Onkel Barnabas war für mich ein Vorbild, so einer wie er wollte ich auch einmal werden. Und ich bin überzeugt, er mochte mich ebenfalls gern. – Wie ist das eigentlich bei euch mit den Kindheitserinnerungen? Die ersten Eindrücke im Elternhaus sind oft ganz entscheidend für den weiteren Lebensweg.  

 

Ihr wollt wissen, ob ich auch Jesus persönlich kennengelernt habe? Nein, - oder doch: ja! Aber das ist eine peinliche Geschichte. – Gut, ihr sollt sie hören. Ich war damals etwa so alt wie die Konfirmanden, die heute hier sind. Obwohl es erst Frühjahr war, gab es schon ein einige heiße Tage, und ich liebte es, nachts mich ohne Kleidung, nur mit einem Laken bedeckt, ins Bett zu legen. Da, kurz vor dem Einschlafen, ein Lärm draußen auf der Straße. Stimmen schwirrten durcheinander: „Jetzt haben wir dich! Weiter, schneller! Du entkommst uns nicht mehr! Jetzt kann dir dein Gott nicht mehr helfen!“ Meine Neugierde war geweckt. Eilig warf ich mir das Betttuch um und schlich zur Tür. Im Schein von Fackeln sah ich, wie Bewaffnete auf einen Mann einschlugen und ihn fortschleppten. War das etwa gar Jesus? Ich wollte es genauer wissen und folgte in sicherem Abstand der Schar. Da blickte sich einer um, sah mich und rief: „Ha, da ist noch so einer von diesen Jesusleuten. Auf, fasst ihn!“ Erschrocken wollte ich fliehen. Doch einer holte mich ein, griff nach mir, aber bekam nur das Betttuch zu fassen. Ich aber ließ es schnell fallen und rannte splitternackt davon. Da ließen sie von mir ab, aber ihr höhnisches Gelächter dröhnt mir noch bis heute im Ohr. Was für eine Schande! Nie werde ich dieses Ereignis vergessen. Ich hoffe, ihr verurteilt mich deswegen nicht und sprecht mir nicht die Fähigkeit ab, dennoch Verantwortung in der Gemeinde zu übernehmen. Aber mal ehrlich: Wie hättet ihr euch damals an meiner Stelle verhalten?

 

Eines habe ich jedoch durch dieses Ereignis gelernt: Es kann gefährlich werden, Jesus nur in der Haltung eines neutralen Beobachters und Zuschauers begegnen zu wollen. Das kann plötzlich ganz persönliche Konsequenzen zur Folge haben, und du bist gefragt: Gehörst du nun zu ihm, Ja oder nein?

 

Und noch ein Zweites: Ich wollte jetzt noch mehr von diesem Jesus erfahren. Einiges kannte ich schon durch meinen Onkel Barnabas. Nun fragte ich bei anderen nach, vor allem aber immer wieder bei Petrus. Der konnte mir viel berichten, angefangen mit dem Auftreten Johannes des Täufers bis hin zu Jesu Kreuzigung und Auferstehung.  Später schrieb ich dann das alles auf, nichts sollte vergessen werden. In den Abschnitt über die Gefangennahme Jesu aber fügte ich eine Notiz ein, die über jenen Jugendlichen, der nackt davonlief. Nein, meinen Namen nannte ich nicht, denn meine Person war in dem ganzen Geschehen ja gar nicht wichtig. Aber glaubt mir: ich war es wirklich, nicht irgendein anderer, Bruder, Kumpel oder sonst wer. Jesus sagte einmal: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Und deshalb müssen wir auch dazu stehen, was wir früher getan oder nicht getan haben.  

 

Und wie ging es dann weiter? Durch Onkel Barnabas lernte ich Paulus kennen. Eine eindrucksvolle Persönlichkeit, ein großer Denker und Theologe. Aber es war nicht immer ganz einfach mit ihm. So ist es ja manchmal mit den großen Leuten. Als mein Onkel und Paulus zur ihrer ersten Missionsreise aufbrachen, fragten sie mich: „Willst du nicht mitkommen? Du kannst uns helfen bei manchen Handreichungen und organisatorischen Diensten. Und außerdem kannst du von uns lernen, an den unterschiedlichsten Orten Juden und Nichtjuden die Botschaft von Jesus zu verkündigen.“ Das schien mir ein Abenteuer zu werden. Zuerst waren wir in Zypern, und dann fuhren wir mit dem Schiff hinüber nach Perge in Kleinasien. Ich merkte: Nein, eine Luxusreise ist das nicht; ich hatte mir das anders vorgestellt. Und als Paulus sagte: „Jetzt müssen wir weiter nach Pisidien, dort hinter den hohen Bergen“, da war für mich das Maß voll. „Ich nicht! Mir reicht’s! Alle Strapazen dieser Reise, und nun noch die Gefahr durch Wegelagerer, die es hier geben soll. Nein, ich fahre wieder heim!“ Mein Onkel suchte mich zu beschwichtigen, aber Paulus tobte, ich sei fahnenflüchtig und unzuverlässig. Schließlich zogen die beiden ohne mich weiter, und ich fuhr mit dem nächsten Schiff wieder zurück. Ehrlich gesagt, das war auch kein Glanzstück von mir. Ja, ich weiß, ich habe versagt und die andern enttäuscht. Ich musste noch viel lernen.  

 

Jahre vergingen. Paulus und Barnabas waren von ihrer Reise schon längst wieder zurück. Da schlug Paulus eines Tages vor: „Wir sollten wieder aufbrechen und nach den Gemeinden sehen, die wir bei der ersten Fahrt besucht hatten.“ „Ja, ein guter Gedanke“, antwortete mein Onkel. „Und den Johannes Markus nehmen wir wieder mit, er ist inzwischen älter geworden und soll eine zweite Chance bekommen.“ „Nein, auf keinen Fall“, brauste Paulus auf, „so einen Feigling können wir nicht gebrauchen. Der macht uns nur wieder Ärger und belastet unser Vorhaben.“ „Aber ich will, dass er mitkommt!“ „Und ich will ihn nicht!“ Ein Wort gab das andere, zusätzlich auch noch theologische Streitereien zwischen den beiden, Schließlich sagte Paulus: „Dann fahre ich eben allein und suche mir einen neuen Gefährten.“ Und mein Onkel erwiderte: „Dann fahr doch, und ich mache meine Reise mit meinem Neffen, ob es dir passt oder nicht.“ Ja, so kann es unter Christen auch zugehen, und ich bin ungewollt zum Zankapfel unter den beiden geworden. Manchmal ist es aber wirklich besser, sich zu trennen und unterschiedliche Wege zu gehen, wenn gemeinsam nichts mehr möglich ist. Paulus fuhr wieder nach Kleinasien und kam später sogar bis nach Europa, während mein Onkel mit mir die Gemeinden in Zypern besuchte.  

 

Die Trennung war schmerzlich, und doch war der Kontakt zueinander nicht ganz abgeschnitten. Es ist gut, wenn immer eine Tür zur Versöhnung offenbleibt. So war es auch zwischen Paulus und mir. Wir kamen nach längerer Zeit wieder zusammen, konnten über das Vergangene sprechen und baten einander um Verzeihung. Sogar in seinem Mitarbeiterkreis wurde ich wieder tätig und blieb auch bei ihm, als er im Gefängnis war und andere ihn verlassen hatten. In einigen seiner Briefe schrieb er anerkennend von mir und berichtete, dass ich ihm gute Dienste leiste.

 

So, nun kennt ihr meine Lebensgeschichte. Wenn auch manches nicht so vorbildlich war oder vielleicht gerade deshalb, habe ich dadurch gelernt, mich selbst zu erkennen, und zu erkennen, was Gnade ist, die unbegreiflich große Gnade Gottes, die in Jesus sichtbar geworden ist. Und ich habe gelernt zu kämpfen, den Kampf des Glaubens, und diesen auf keinen Fall aufzugeben. Nun urteilt selbst, ob ich in euerm Kirchenvorstand und in eure Gemeinde passen würde.

 

Danke, lieber Freund, dass du dich so offen und ehrlich uns vorgestellt hast. Danke. Doch halt, hier habe ich ja auch noch ein Empfehlungsschreiben zu deiner Person erhalten. Es stammt vom Apostel Paulus. Zwar schrieb er: „An die Gemeinde in Kolossä“, aber es ist sicherlich auch an die Christen in Ingolstadt adressiert. Es steht sogar in der Bibel, im Kolosserbrief, Kapitel 4, Vers 10:

 

„Es grüßt euch Markus, der Neffe von Barnabas. Seinetwegen habt ihr ja bereits Anweisungen erhalten. Wenn er zu euch kommt, nehmt ihn freundlich auf!“

 

Nun, liebe Markus-Gemeinde, was meint ihr? Eigentlich hat er doch schon lange seinen festen Platz in unserer Mitte. Ich denke, wir sollten ihn immer wieder freundlich aufnehmen, sehr freundlich aufnehmen und seine Botschaft beherzigen, Amen.


Ansprache beim Segnungsgottesdienst

am 29. September 2024

über Psalm 91, 1-2.11-12

 Rudolf Potengowski

 „Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Englein bei mir stehn:

zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken,

zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen,

zwei, die mich decken, zwei, die mich wecken,

zwei, die mich führen bis ins himmlische Paradies.“



Liebe Schwestern und Brüder, kennt ihr dieses Gedicht? Als ich ein kleines Kind war, hat es meine Oma immer mit mir gebetet, wenn sie mich zu Bett brachte. Und dann bin ich meistens schnell eingeschlafen. Ich möchte natürlich nicht, dass auch ihr jetzt gleich einschlaft. Aber vielleicht habt ihr ähnliche Kindheitserinnerungen. Außerdem ist heute der Michaelistag, an dem die Christenheit an den Erzengel Michael und an alle Engel Gottes denkt.

 

Als ich größer wurde, war mir das Gebet von den Engeln zu kindlich und märchenhaft. Meine Oma lehrte mich dann andere Gebete. Und doch können solche alten Texte später einmal wieder wichtig, sogar ganz wichtig werden. Am 19. Dezember 1944 schrieb Dietrich Bonhoeffer seiner Braut und der Familie einen Weihnachtsbrief, und zwar aus dem Gestapokeller in Berlin, gleichsam aus der Todeszelle. Er hatte kaum noch Hoffnung, jemals wieder frei zu kommen. Umgeben von Mauern und Gittern, sowie von feindlich gesonnenem Wachtpersonal schrieb er:  

 

„Ihr alle seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. … Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“

 

Das Gebet von den vierzehn Engeln wurden ihm zum Trost in dunkelster Nacht. Und es inspirierte ihn, dieses in eine neue, erwachsenengemäße Sprache umzudichten:

 

„Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar,

so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

 

Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. Mai 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Unzählige haben seither aus seinen Versen Trost, Geborgenheit und inneren Frieden empfangen. Ja, es gibt sie, die guten Mächte, die Engel. Mögen sich die bösen Mächte auch noch so sehr aufspielen, als wären sie allmächtig, die Engel Gottes zeigen ihnen ihre Grenzen und überlassen ihnen nicht diese Welt. Mögen auch Lügen und Hass immer wieder versuchen, das menschliche Miteinander zu vergiften, die Engel Gottes machen uns Mut: Gib nicht auf, die Wahrheit wird siegen. Und wenn uns bang ist, was der morgige Tag bringen wird, die Engel Gottes schützen, begleiten und trösten: Sei unverzagt, du bist geborgen in Gottes Hand, mag kommen, was da will.

 

Übrigens: Engel erkennt man nicht immer gleich auf den ersten Blick. Flügel haben sie in der Regel nur auf frommen Bildern. Gott kann zu seinen Boten auch ganz normale Menschen machen, z.B. Oma und Opa, die sich Zeit für ihre Enkel nehmen, mit ihnen spielen, sie ermutigen, mit ihnen beten. Oder ein Feuerwehrmann, der bei Katastrophen schützt und rettet, sogar unter eigener Lebensgefahr. Oder jemand, der dir zuhört, dir ein gutes Wort zuspricht, oder der dich segnet. Und ich bin sicher, auch du hast schon mehrmals anderen solche Engelsdienste geleistet, und hast sie gar nicht als solche angesehen.

 

Die Engel, seien es die unsichtbaren Mächte oder die sichtbaren Menschen, sie stehen für das Urvertrauen in das Leben und letztlich in Gott, das wir alle so nötig brauchen in dem Auf und Ab unserer Existenz. Vielleicht sollten wir uns darum doch hin und wieder auf diesen alten Text von den vierzehn Englein besinnen. Oder auch auf die guten Mächte in dem Gedicht von Bonhoeffer. Oder wir beten mit den Worten aus dem 91. Psalm, der als biblische Grundlage allen diesen Texten zugrunde liegt:

 

„Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Amen.


Predigt über Lukas 13, 10 - 17

am 18. August 2024

in St. Paulus und der Dietrich-Bonhoeffer-Kirche, Ingolstadt

von Rudolf Potengowski

„Als Jesus einmal in einer der Synagogen lehrte, war dort eine Frau. Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr gerade aufrichten. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte zu ihr: ‚Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!‘ Und er legte ihr die Hände auf. Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott. Aber der Synagogenvorsteher ärgerte sich darüber, dass Jesus die Frau an einem Sabbat heilte. Deshalb sagte er zu der Volksmenge: ‚Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen – und nicht am Sabbat!‘ Doch der Herr sagte zu ihm: ‚Ihr Scheinheiligen! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe los und führt ihn zur Tränke? Aber diese Frau hier, die doch eine Tochter Abrahams ist, hielt der Satan gefesselt – volle achtzehn Jahre lang! Und sie darf am Sabbat nicht von dieser Fessel befreit werden?‘ Als Jesus das sagte, schämten sich alle seine Gegner. Doch die ganze Volksmenge freute sich über die wunderbaren Taten, die Jesus vollbrachte.“ (Basis-Bibel)

 

Lieber Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!

„Alles muss seine Ordnung haben.“ – Nicht wahr, das seht ihr doch auch so? Alles hat seinen festen Platz. Es gibt gewisse Regeln, die zu beachten sind. Es kann nicht jeder machen, was er will. Ordnung ist das halbe Leben, heißt es. – Nun sind in dieser Hinsicht die Menschen allerdings verschieden. Die einen fühlen sich nicht wohl, wenn alles durcheinander liegt, und möchten, dass bis in alle Kleinigkeiten hinein geklärt wird, was man zu tun und zu lassen habe. Und die andern leben nach der Devise, wer aufräumt, ist nur zu faul zum Suchen; sie lieben das kreative Chaos und sehen ihre Freiheit durch allzu viele Vorschriften gefährdet. Zu welcher dieser beiden Gruppen würdet ihr euch wohl zugehörig fühlen? 

 

„Alles muss seine Ordnung haben.“ Das war jedenfalls der Wahlspruch des Synagogenvorstehers im heutigen Evangelium. Das war ja auch seine Aufgabe: Wenn es irgendwo am Gebäude etwas zu reparieren galt, wenn man vergessen hatte, die Leuchter zu putzen oder den Thoraschrein zu schließen, dann war er gefordert. Er hatte darauf zu achten, dass die Männer vorne saßen und die Frauen hinten. Und die richtige Abfolge im Gottesdienst, erst Gebete, dann Thoralesung, dann Predigt, das war ebenfalls seine Zuständigkeit. Und nicht zu vergessen: Sein Herzensanliegen war, dass der Sabbat, dieser Ruhetag nach der Arbeit der Woche, eingehalten wird. Der Sabbat, dieser heilige Tag, das große Geschenk Gottes als Tag der Besinnung und des Gebets, war unbedingt zu beachten und zu schützen. „Alles muss seine Ordnung haben.“ Es ist gut, dass es solche Leute gibt, Menschen, die sich verantwortlich wissen für andere und deren Wohlergehen, und die sich zuverlässig um die ihnen anvertrauten Aufgaben kümmern. Eigentlich sind wir doch auch alle ein Stück mitverantwortlich für das, was um uns herum geschieht, sei es in Familie, Beruf, Gesellschaft, oder auch in der Kirche. „Macht, was ihr wollt, ich halte mich raus“, ist letztlich keine gute Haltung, zumindest nicht immer und überall.

 

So gibt es nun eine Vielzahl an Ordnungen: Hausordnung, Schulordnung, Straßenverkehrsordnung, Gemeindeordnung, Gottesdienstordnung, Ordnungshüter, Ordnungsstrafen – und somit ist alles in Ordnung! Oder? Ist wirklich alles in Ordnung, wenn in der Synagoge Gott für die Ruhe des Sabbats gepriesen wird und keiner hat einen Blick für die Frau mit dem verkrümmten Rücken übrig, wie sie sich nur mühsam auf den Beinen hält? Ist alles in Ordnung, wenn wir uns nur dann wohlfühlen, wenn niemand die eingespielten Gewohnheiten und den vertrauten Tagesablauf stört? Ist es in Ordnung, wenn wir singen „Großer Gott, wir loben dich“, aber untereinander giften wir uns an und empören wir uns, wenn jemand einen Fehler macht? Ist es in Ordnung, jemanden, der Hunger hat, einen Fragebogen in die Hand zu drücken, und Leute, die Hilfe brauchen, mit Paragraphen abzuspeisen? Und wenn die Antwort auf die zahlreichen Krisen und Kriegen in der Welt refrainartig und fantasielos nur immer lautet: Waffen, noch mehr Waffen? Ist unsere ach so geordnete Welt wirklich in Ordnung?

 


Ordnungen können ganz verschieden sein, gut oder schlecht, lebensfreundlich oder lebensfeindlich. Es gibt Ordnungen um der Ordnung willen, Regeln, die zu beachten sind, weil es eben so geregelt ist, Vorschriften, die so sind, weil es anders nicht sein darf. Armer Synagogenvorsteher, dass du dich von diesem Ordnungsdenken hast gefangen nehmen lassen. Und wie arm sind alle, die die Liebe zur Ordnung der Liebe zu den Menschen vorziehen. Wie arm sind alle, die gefesselt sind von Vorschriften und sagen, das sei alternativlos, es lohne sich nicht, noch nach anderen, menschlicheren Möglichkeiten zu suchen. – Wie arm sind wir doch eigentlich alle in dieser so geordneten Welt!

 

Die Ordnung aber, die für Jesus gilt, sieht anders aus. Es ist die Ordnung des Herzens und der Liebe. So begegnet er der verkrümmten Frau in der Synagoge. So begegnet er auch dir und mir. So sollte auch unser Miteinander aussehen. Die Ordnung der Liebe, wie sie uns hier im Evangelium begegnet, zeichnet sich durch ein Doppeltes aus: Hinsehen und aufrichten.

 

1. Hinsehen: Jesus sieht die Frau. Von anderen wurde sie meistens übersehen. Sie war ja auch klein und gebückt. Oder man bemerkte sie und dachte: Ach ja, die Alte mit dem krummen Rücken, die kommt auch mal wieder vorbei. Aber das war es dann schon. Weiter interessierte man sich nicht für sie: warum sie so verunstaltet war, ob sie Schmerzen hatte, wie sie ihren Alltag bewältigte, was sie wohl veranlasste, in die Synagoge zu kommen, nein, nichts Derartiges. Oder vielleicht waren die Leute einfach nur unsicher, wie man ihr begegnen sollte. So ist es ja häufig im Umgang mit Behinderten. Aber Jesus sieht sie: ihre gebeugte Gestalt, das verhärmte Gesicht, den scheuen Blick, den unsicheren Gang, alle Spuren, die das Leben und besonders die achtzehn Jahre ihrer Krankheit an Leib und Seele hinterlassen haben. Bei Jesus ist das mehr als bloße Kenntnisnahme. Er lässt sich von ihrem Schicksal berührten und nimmt Anteil an ihrem Geschick.  

 

So sieht Jesus auch dich und mich. Was uns belastet und behindert, was wir vor anderen verbergen, weil es sie nichts angeht oder weil es uns peinlich ist, was wir schon seit Jahren mit uns herumschleppen und niemand interessiert das. Jesus sieht es. Ihm ist es nicht egal. Ihm sind wir nicht egal. Du bist ein Gott, der mich sieht, lautete die Jahreslosung des vergangenen Jahres.

 

Und Jesus möchte uns lehren, ebenfalls nach dieser seiner Art zu sehen: Nicht nur auf Normen zu achten, ob diese erfüllt oder verfehlt werden, sondern zu erkennen: Da ist ein Mensch mit seinen Besonderheiten, Bedürfnissen und Ängsten. Da ist ein Kind Gottes, ein Sohn oder eine Tochter Gottes, so wie du einer, eine bist. Und jeder von ihnen braucht Zuwendung und Liebe, genauso wie jeder von uns. Den andern mit den Augen Jesu sehen – eigentlich wären dafür doch dafür unsere kirchlichen Kreise ein geradezu ideales Übungsfeld. Ich denke, unsere Gemeinden sollten sich verstärkt um eine Kultur dieses wahrnehmenden, wohltuenden Blicks bemühen und nicht so viel kühle Distanziertheit und Gleichgültigkeit ausstrahlen.

 



2. Aufrichten: Wir wissen nicht, warum die Frau zu stark verkrümmt war. Hatte sie eine Krankheit an der Wirbelsäule? Drückten schwere Lasten auf ihren Rücken oder ihre Seele, dass sie mehr und mehr in sich zusammensank? War es die Trauer um einen geliebten Menschen oder der Schmerz um zerstörtes Lebensglück? Lukas spricht von einem Geist, der sie krankmachte. Es war vielleicht eine Stimme, die ihr unentwegt zuflüsterte: Du bist nichts! Du kannst nichts! Du bist total überflüssig! Und zustimmend nickte sie jedes Mal mit dem Kopf und dachte: Ja, es ist wahr! Alles ist sinnlos! Ihr Kopf sank tiefer, immer tiefer, und der Rücken wurde immer krummer. Jesus wusste sehr wohl, was mit dieser Frau los war, ebenso wie er auch dich und mich ganz genau kennt. Aber er wusste auch: Gott hat den Menschen geschaffen, um aufrecht zu stehen und zu gehen. Das ist seine Bestimmung und seine Würde. Die Geschichte der Menschheit begann einst damit, dass vor rund 12 Millionen Jahren sich unsere Vorfahren aus der Tierwelt aufrichteten und sich fortan auf zwei Beinen fortbewegten. Auch jedes Kind lernt nach dem Rutschen und Krabbeln der ersten Monate das Aufstehen und Gehen, und dann klatschen alle: Bravo, das hast du gut gemacht! Der aufrechte Gang ist wesentlich für unser Menschenseins, und ist doch immer wieder gefährdet und muss stets neu geübt werden.  

 So ruft nun Jesus die Frau zu sich. Nichts war jetzt wichtiger, als dass ihr geholfen wird, Auch das Arbeitsverbot am Sabbat zählte jetzt nicht. Oder ist das nicht gar der eigentliche Sinn dieses Tages, ein Tag der Freude und der Befreiung zu sein? Unsicher und erwartungsvoll kommt die Frau nach vorn. Jesus legt ihr die Hände zum Segen auf. Im Vertrauen auf sein Wort hebt sie den Kopf, blickt ihn an; der verspannte Rücken lockert sich, sie richtete sich auf, kann aufrecht stehen. Es ist die Kraft Jesu, die das möglich macht. Und sie bricht in einen nicht enden wollenden Jubel aus.

 

O Jesus, kannst du nicht auch zu uns kommen? Wieviel niedergedrückte Leute gibt es doch auch in unserer Mitte! Wie viele Rückenleiden, im wörtlichen Sinn und solche, die man sich angewöhnt hat, weil eine aufrechte Haltung häufig nicht opportun ist! Jesus, du hast doch gesagt: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Herr, da sind wir: Richte auch uns auf, heile alles, was verbogen und schief ist, gib uns dazu deinen Segen und deine Kraft. Hilfe uns aber auch, damit wir uns gegenseitig stützen und aufzurichten, wenn jemand am Ende seiner Kräfte ist und nicht mehr weiterkann. Lass uns aufmerksam sein, wo immer auch jemand klein gemacht und gedrückt wird. Menschen mit Rückgrat sind heute so bitter nötig und sind doch so selten. Herr, lehre uns doch erkennen, wie unser Miteinander nach deinem Willen aussehen könnte, und gib uns den Mut, dann entsprechend auch zu handeln. Mag es dann auch den Regeln und dem, was sonst üblich ist, entsprechen oder auch nicht. Ja, es stimmt: Alles muss seine Ordnung haben! Aber bitte: Alles entsprechend der Ordnung Jesu: mit einem sehenden Herzen und tatkräftiger, aufrichtender Hilfe, wo immer sie nötig ist.

Amen.

Predigt über Epheser 5, 8b-14

am 21. Juli 2024 in St. Lukas und Großmehring

von Rudolf Potengowski

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!



„Aufwachen! Nicht schlafen! Zeit aufzustehen!“ Nein, liebe Gemeinde, euch meine ich damit nicht. Ich vermute jedenfalls, ihr seid alle hellwach. Und sollte jemand mit dem Kopf nicken, so bewerte ich das als volle Zustimmung. „Aufwachen!“ – Ihr kennt das vielleicht bei euren Kindern und Enkeln, wenn sie in die Schule müssen und überhaupt keine Lust dazu haben. Oder gar bei euch selbst, wenn das Bett gar zu gemütlich ist und man nur ein bisschen, nur fünf Minuten noch liegenbleiben möchte. In der Regel aber haben wir damit keine Probleme. Oder vielleicht doch? Ist es denkbar, dass man bei aller Aktivität, dies und das und jenes, dennoch das Wichtigste verschläft? Könnte es gar sein, dass auch unsere Kirche von einer Art Schlafkrankheit befallen ist und gar nicht merkt, was die Stunde geschlagen hat? „Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten,“ ruft der heutige Predigttext uns zu. Mit diesen Worten gipfelt der Abschnitt aus dem Epheserbrief, um den es heute geht. Ich lese darum aus dem dortigen 5. Kapitel die Verse 8b-14:

 

„Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf. Denn was von ihnen heimlich getan wird, davon auch nur zu reden ist schändlich. Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“

 

Das ist ein Weckruf aus den Tagen der frühen Christenheit, als sich im Laufe der Zeit eine gewisse Müdigkeit eingeschlichen hatte. Ein Weckruf, wie er in der Geschichte der Christenheit immer wieder erklang, wenn die Kirche vergaß, dass sie Kirche Jesu Christi ist und welchen Sinn und Auftrag ihr Dasein in der Welt hat. Es ist ein Weckruf auch für die Kirche in der Gegenwart, die sich fragt, ob sie eigentlich noch eine Bedeutung habe in dieser sich so schnell und radikal verändernden Welt. Und es ist ein Weckruf für jeden einzelnen Christen, auch für dich und mich, wenn der Glaube zur bloßen Gewohnheit zu erstarren droht und sich nur noch an Äußerlichkeiten festmacht. Es braucht immer wieder einen Weckruf, eine „Erweckung“, damit wir als einzelne wie auch als Gemeinde nicht verschlafen und vergessen, wozu uns Christus berufen hat. Aber es ist manchmal gar nicht so einfach, aufzuwachen und aufzustehen. Folgende Impulse könnten uns dann behilflich sein:

 

1.    Merkst du nicht, wie hell es ist und dass die Sonne scheint? Vergrab dich nicht in deine Matratzengruft. Sage nicht: Es ist doch noch alles dunkel. Blick zum Fenster, schau, es ist Tag und keine Nacht! Ihr Lieben: Über uns allen leuchtet die Ostersonne, Christus, das Licht der Welt. Die Mächte der Finsternis und des Todes hat er besiegt. Er ruft uns zu: Ich lebe, und ihr sollt auch leben. Ihr, jeder Einzelne, und ebenso auch die Kirche, überall, wo sich eine Gemeinde versammelt: Ihr sollt leben! Es ist heller Tag. Ihr lebt im Licht der Auferstehung. Was auch immer geschehen mag, Sorgen, Veränderungen und Krisen, und dazu viele Beratungen, Strukturanalyen und Zukunftsperspektiven, vergesst dabei nicht: Christus lebt! Sein Licht gibt Hoffnung und Zukunft. 

 


Ja, ja, mögen manche sagen, das sind aber nur Worte, viele schöne Worte. Ich sehe nur, dass es überall dunkel ist: in der Welt, in der Kirche, in meiner eigenen Umgebung und auch tief drinnen in mir. Es ist gar nicht so selten, dass jemand so spricht, vielleicht sind das manchmal sogar unsere eigenen Gedanken. Dann möchte man am liebsten die Augen wieder zumachen und in den Schlaf flüchten, vorausgesetzt, dass man überhaupt noch schlafen kann. … Was soll man dazu sagen? Hier in der Kirche steht ein riesiges Kreuz, vom Boden bis zur Decke, von der einen Seite bis zur andern. Es kann gar nicht groß genug sein, dieses Kreuz, so unbeschreiblich groß ist die Finsternis dieser Erde. Schaut her: Da ist das Licht der Welt; Der uns hier anblickt, der ist das Licht der Welt. Nicht in fernen Himmelhöhen ist er, sondern mitten in unserm Leben, mit allen Freuden und Leiden. Auch in allen Dunkel ist er da, und zugleich lässt er uns teilhaben an seiner Auferstehung. Mehr kann ich nicht dazu sagen. Mehr kann ich auch zu mir mit meinen Ängsten und Sorgen nicht sagen. Aber es reicht, um immer wieder aufzustehen, jeden Tag neu aufzustehen.

 

2.    Und dann sprich zu dir selbst: Ich bin ein Kind des Lichts, ein Sohn des Lichts, eine Tochter des Lichts. So steht es jedenfalls im Epheserbrief: Wandelt als Kinder des Lichts. Vielleicht denkst du: „Nein, das muss eine Täuschung sein, ich doch nicht! Das wäre ja Größenwahn, Hochstapelei. Leute dieser Art gibt es sowieso schon viel zu viel auf Erden. Geht es nicht auch ein bisschen bescheidener? Wir sind doch weder Engel noch Teufel, vielleicht eine Mischung von beiden, oder einfach nur: Menschen. Aber Kinder des Lichts?“ Doch! Aber nicht du musst leuchten; selbstgebastelte Heiligenscheine sind sowieso nur etwas für Scheinheilige. Wer sich jedoch bescheinen lässt vom Licht und der Liebe Gottes, ist ein Sohn, eine Tochter des Lichts. Er oder sie muss nicht fehlerlos sein, nicht immer gut gelaunt und vorbildlich in allem, was man tut, nicht einmal immer voll Gottvertrauen und ohne Zweifel. Aber es ist wie mit einem Spiegel: Mag dieser auch zerkratzt oder beschlagen sein, vielleicht auch nur eine zerbrochene Scherbe. Wenn ihn aber ein Sonnenstrahl trifft, reflektiert er ihn, gibt ihn weiter, wird es hell. Kinder des Lichts, sagt nicht: Ich kann nichts, ich bin nichts, ich traue mir nichts zu. Wenn das wahr wäre, wäre es tatsächlich besser, liegen zu bleiben. Kinder des Lichts aber stehen auf, weil sie der Kraft des Lichtes vertrauen. Und dieses Selbstbewusstsein, oder besser: Christusbewusstsein, das wünsche ich jedem von uns, und das sollte auch unsere Gemeinden prägen. Wir müssen uns nicht entschuldigen, dass es uns in dieser säkularen Welt überhaupt noch gibt, müssen uns nicht verstecken und fürchten, nicht ernstgenommen oder gar angegriffen zu werden. Zwar wissen wir um die eigenen Grenzen und unser Versagen. wir kennen und leiden unter dem Zwiespalt zwischen dem, wie wir gern sein möchten, und der offensichtlich ganz anderen Wirklichkeit, – und dennoch: demütig und fröhlich sagen wir: Wir sind Kinder des Lichts. Das ist Gemeinde, das ist Kirche.

 

3.    Und dann: Auf, pack mer’s! Wandeln wir los! Machen wir es wie die Fackelläufer, die das olympische Feuer nach Paris gebracht haben, damit am kommenden Freitag die Spiele beginnen können. Was wäre das für eine Aufregung, würde einer von diesen sich unterwegs hinsetzen und sagen: Warum soll ich eigentlich weiterlaufen? Ich habe doch Licht.




Dieser flackernde Schein der Flamme, das ist richtig romantisch, das will ich jetzt genießen. Lauf, lauf, würden alle rufen. Die anderen warten schon. Söhne und Töchter des Lichtes, auch ihr werdet erwartet. Macht es euch nicht zu bequem im kuscheligen Bett, in der Wohlfühlzone einer vertrauten Gemeinschaft hinter verschlossenen Türen, wo alle einer Meinung sind und kein plötzlicher Windstoß sie aufschreckt. Jesus ist das Licht der Welt, und dorthin sind auch wir als seine Boten gesandt.

 

Und Wettkämpfer sind wir übrigens auch. Wir stehen nämlich auf der Teilnehmerliste für den Dreikampf. Wusstet ihr das nicht? Nicht der klassische Wettkampf mit Laufen, Springen, Werfen. Nicht Triathlon: Schwimmen, Radfahren, Laufen. Nein, unsere Disziplin ist der Dreikampf des Glaubens: „Die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“ Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit, dazu werden wir aufgefordert, anzutreten in der Arena dieser Welt. Güte, und nicht Gleichgültigkeit, und erst recht nicht Hass. Gerechtigkeit, der es nicht nur um das eigene Recht geht, selbst wenn es auf Kosten anderer geht. Und Wahrheit, die Voraussetzung dafür, dass wir einander vertrauen und uns aufeinander verlassen können. Letztlich sind diese drei Disziplinen die unverzichtbaren Grundlagen für ein gelingendes Miteinander aller Menschen, ja überhaupt für das Überleben der Menschheit. Was das nun konkret und im Einzelnen für uns bedeutet, darüber müsste jetzt gründlich überlegt, gesprochen, vielleicht auch gestritten werden. Und es ist wichtig, immer wieder den zu fragen, der der Ursprung allen Lichtes ist. „Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist.“ „Was würde Jesus dazu sagen?“ Für Martin Niemöller, dem ehemaligen U-Boot-Kommandanten, Pfarrer, KZ-Insassen und späteren Kämpfer für den Frieden, was das stets die Frage, wenn er vor wichtigen Entscheidungen stand. Es gibt dabei nicht immer eine eindeutige Antwort und schützt auch vor Irrtümern nicht, und doch: Es kommt damit eine neue Dimension, wie ein Lichtkegel in die Wirrnisse und Finsternisse unserer Zeit. Was würde Jesus heute sagen? Auf jeden Fall dieses: „Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“ Amen.



Predigt zum Thema „Abend“

am 30. Juni 2024 im Gemeindesaal Am Anger

von Rudolf Potengowski

Liebe Gemeinde, herzlich willkommen zum heutigen Gottesdienst. Wie doch die Zeit vergeht! Schon wieder ist die Hälfte des Jahres vorbei. Die Tage werden wieder kürzer. Erst unmerklich zwar, dann immer schneller, bis es schließlich um diese Stunde wieder dunkel ist. Die Zeit vergeht, und wir ebenso. Zeit – was ist eigentlich Zeit? Wir messen und kontrollieren sie. Oder kontrolliert sie uns? Hat sie uns in Fesseln gelegt? Werden wir von ihr gejagt und klagen atemlos: Ich habe keine Zeit, keine Zeit? Die Zeit ist ein großes Rätsel, ein spannendes und unerschöpfliches Thema für Naturwissenschaftler und Philosophen. Und ein Thema unseres Glaubens. In einem Kinderlied heißt es: Meinem Gott gehört die Welt, meinem Gott das Himmelszelt, ihm gehört der Raum, die Zeit, sein ist auch die Ewigkeit. Da wir heute einen Abendgottesdienst feiern, soll ein Teil der Zeit, nämlich der Abend, im Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen, jeweils mit drei biblischen Lesungen und einigen Gedanken dazu. Zunächst aber singen wir das Lied: Du schenkst uns Zeit, einander zu begegnen … (592, 1-4)


Predigt:


Teil 1: Der Abend ist ein Geschenk


„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht! Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ (1. Mose 1, 1-5)


Wie mit einem Refrain schließt jeder Schöpfungstag mit den Worten: Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag, der zweite Tag, der dritte Tag usw. Abend und Morgen – der Takt der Zeit, stets gleichbleibende Struktur und Ordnung. Und das nicht nur an jenen symbolischen sieben Tagen zum Beginn von allem, was ist, sondern jeden Tag neu. Und wie der ganze Tag, so ist auch der Abend, den wir jetzt etwas näher betrachten wollen, Gottes gutes Werk und Gabe für uns. 


Wie viele Abende haben wir schon erlebt? Für einen Dreißigjährigen sind es etwa 11.000; für einen Siebzigjährigen rund 25.600; bei mir sind es schon über 31.000. Und wie viele haben wir noch vor uns? Und jeder dieser Abende ist ein Geschenk Gottes. „Gott sei Dank, es ist Feierabend“, sagen wir vielleicht. Oder auch: „Was, schon wieder so spät? Ich bin doch noch gar nicht fertig, habe noch dies und das zu tun.“ Für manche gar sind die Abende eine schwere Last, vor allem, wenn sie allein sind oder dunkle Gedanken sich ihrer bemächtigen wollen. Wie dem auch sei: Der Abend, jeder Abend kommt von Gott. Er will, dass unser Leben nicht nur Arbeit und Mühe ist, sondern auch heilsame Unterbrechungen, Ruhe und frohes Feiern kennt. Er lehrt uns, dass wir nicht alles können und leisten müssen, und dass die Vollkommenheit allein bei Gott zu finden ist. Und wir erfahren, dass dunkle Stunden im Wechsel der Zeiten auch ihren Platz haben; sie bleiben uns nicht erspart, aber Gott will uns in ihnen zur Seite stehen und hindurchgeleiten. 


Übrigens: Ist es schon aufgefallen, dass es heißt: Abend und Morgen? So, wie auch der jüdische Sabbat schon am vorangehenden Abend nach Sonnenuntergang beginnt. Als Erstes kommt nicht der Morgen mit dem Ruf: „Aufstehen! An die Arbeit! Ausruhen könnt ihr euch später!“ Sondern am Anfang steht die Aufforderung: „Genießt den Abend! Feiert! Ihr müsst jetzt gar nichts machen! Freut euch an allem, was schon geschehen ist, von euch und anderen und vor allem von Gott.“ Am Anfang hat er gewirkt, indem er Himmel und Erde schuf und alles andere, was unser Dasein ermöglicht. Erst wenn wir das begriffen haben und danken, feiern, genießen, ruhen, erst dann kommt die Morgenstunde und ruft uns an die Arbeit. Es wäre interessant, einmal etwas näher darüber nachzudenken, was diese Reihenfolge für Konsequenzen für unser Leben, unsere Beziehung zu anderen, unsere Gesellschaft und für unsern Glauben hat. 


Lied 487, 1-4 „Abend ward, bald kommt die Nacht …“ 






Teil 2: Der Abend zeigt eine Grenze


„Herr, du bist unsere Zuflucht für und für. 

Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. 

Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! 

Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. 

Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst,

das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. 

Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, 

und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. … 

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ 

(Psalm 90, 1-6.10.12)


Wenn es Abend wird, ist die Nacht nicht mehr weit. Es geht eben nicht immer so weiter, wie es bisher ging. Die unbegrenzten Möglichkeiten haben ihre Grenzen; vielleicht geht das noch, jenes auch – aber einmal geht gar nichts mehr. Dann ist das Heute zum Gestern geworden, ist nur noch Vergangenheit. Es lässt sich nicht mehr korrigieren, verbessern, ungeschehen machen, – aus und vorbei. Natürlich, morgen ist auch wieder ein Tag, aber ein neuer, ein anderer Tag. So ist es auch heute Abend, und an jedem Abend, den wir noch haben werden. Unsere Tage eilen dahin, sie kommen nicht wieder zurück. - Und nicht nur jeder Kalendertag, auch unser ganzes Leben hat seinen Abend. Dann spüren wir: Wir stoßen an Grenzen, die immer enger werden, und von einstigen großen Plänen lassen sich nur noch wenige verwirklichen. Und am Ende gilt für uns alle: „Der Mensch ist wie Gras, das am Morgen noch sprosst, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt.“ 


Übrigens: Ist es denkbar, dass es auch für unsere Kirche, unsere abendländische Christenheit insgesamt Abend geworden ist? In anderen Ländern wie in Afrika oder Asien hat die Kirche Morgenluft, Aufbruchsstimmung. Bei uns aber ist so viel Müdigkeit, alles wird weniger, vieles, was einmal blühte, ist vorbei. Kommen wir etwa auch an eine Grenze, einen Einschnitt, von dem wir nicht wissen, wie es dahinter weitergeht? – Und wer ein aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens ist, muss sich doch unausweichlich die Frage stellen: Welche Stunde zeigt eigentlich die Weltenuhr an? Ist etwa schon der Abend da? Die Zeiger sind jedenfalls schon bedenklich weit vorgerückt. Immer nur grenzenloses Wachstums, immer mehr, immer weiter so, das kann doch nicht gut gehen. Gott, lehre uns das alles zu bedenken und hilf uns, dass wir endlich klug werden! Nein, Angst will der Abend uns nicht machen und lähmende Resignation ist das Letzte, was uns bestimmen soll. Vielmehr ist am Abend ein besonnener Kopf nötig, um die verbleibende Zeit zu nutzen und das zu tun, was heute noch möglich ist. Und noch eines: Der Abend möchte uns immer wieder dazu anregen, in jene Worte mit einzustimmen, mit denen der 90. Psalm beginnt: Herr, du bist unsere Zuflucht für und für.


Musikalisches Zwischenspiel




Teil 3: Am Abend kommt Christus zu uns


„Am Abend des ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.“ (Johannes 20, 19-20)


Was für ein Tag war das für die Jünger! Erst die Nachricht am Morgen: „Das Grab ist leer“, und als Petrus und Johannes dorthin eilten, konnten sie sich selbst davon überzeugen. Dann berichtete Maria Magdalena: Ich habe den Herrn gesehen, er ist mir begegnet. Und nun ist Abend. Sie sitzen bedrückt zusammen, ratlos, weil das alles so schwer zu verstehen ist. Und sie sind wie gelähmt in ihrer Furcht vor allem, was sonst noch kommen könnte. Ob sie uns auch suchen, verhaften, verurteilen als Anhänger eines Aufrührers? Die Türen haben sie fest hinter sich verschlossen. Kein Halleluja, kein Osterjubel – nur die Angst hat sie fest im Griff. Da tritt Jesus zu ihnen. Dicke Mauern und verschlossene Türen sind für ihn kein Hinderungsgrund. Und er spricht: Friede sei mit euch. 


So kommt Jesus auch zu uns in unsere Abendstunden, sie sind nämlich in ganz besonderer Weise die Stunde seiner Gegenwart. Wenn wir müde sind, wenn der Glaube klein, der Zweifel groß und die Ängste riesig werden, dann tritt er zu uns und spricht: Friede sei mit dir, Friede sei mit euch. Friede – Schalom, das ist Heil, Hilfe, Freude, Leben, das ist er selbst, der Auferstandene und Herr über alle Mächte der Finsternis und auch den Tod. Er tadelt seine Jünger nicht. Er macht auch uns keinen Vorwurf, wenn wir keine Glaubenshelden sind. Alle glücklichen früheren Erfahrungen mit Jesus, wie er uns geholfen und getröstet hat, wie wir ihm vertrauten und sogar in seinem Namen tätig waren, das kann alles plötzlich entschwinden, wenn es Abend wird. Und so mancher, der vollmundig Jesus seinen Herrn nennt, macht die Erfahrung, wie der Glaube zu bröckeln beginnt, wenn es dunkel wird und Angst das Herz ergreift. Aber Jesus spricht: Friede sei mit dir, mit euch. Er weiß, was wir dann brauchen: Nicht Belehrung, Ratschläge und Befehle, sich zusammen zu nehmen, sondern nur das eine: ihn selbst. Und er zeigt seine Wundmale: Schaut, das alles habe ich doch für euch getan. Das sind die Zeichen meiner Liebe. Fürchtet euch nicht! - So endet dieser Tag für die Jünger mit der Freude. Auch für uns hat Jesus dieses Ziel, Freude – was für Abende wir auch jemals noch erleben werden, schöne und schwere, und bis hin zu jenem letzten Abend, an dem er ebenfalls kommt und spricht: Friede sei mit dir! –Und dann wird Freude sein! Amen.


Und dieser Friede Christ, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Lied 483: „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden …“


Predigt über Philipper 2, 5-11

am 24. März 2024 in Mainburg

von Rudolf Potengowski

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! „Mitkommen! He, du da! Mitkommen!“ Zwei Uniformierte stürmen in eine Gefängniszelle und zerren einen an Händen und Füßen Gefesselten heraus. „Schon wieder eines dieser endlosen Verhöre. Oder ist es diesmal der Weg zur Hinrichtung?“ Nein, nur eine erneute Befragung durch seine Peiniger: „Du weißt, wie die Anklage lautet: Störung der öffentlichen Ordnung und Aufruhr gegen die Staatsgewalt. Bist du endlich bereit, dich zu unterwerfen und deinen verrückten Überzeugungen abzuschwören? Uns gehört doch das ganze Imperium, fast die ganze Welt! Wir werden dich schon klein kriegen, verlass dich drauf.“ Er schweigt, wird geschlagen, zurück in seine Zelle geschleppt. Wer ist dieser Gefangene? Nawalny? Oder Bonhoeffer? Nein, der Apostel Paulus. Es ist das Jahr 50 oder 60 nach Christus, die Zeit von Kaiser Claudius oder Nero, und zwar in Ephesus oder Rom, so genau weiß man das nicht mehr. Es ist schon seltsam, wie wenig manches im Lauf der Jahrhunderte, Jahrtausende sich bis heute verändert hat.

 

Seine Wunden schmerzen. „Sterben, ja, sterben und bei Christus sein, das wäre schön! Aber noch werde ich gebraucht, noch ist mein Auftrag nicht erfüllt. Ich muss durchhalten. O Herr, verlass mich nicht.“ Er summt eine Melodie vor sich hin, ein altes Christuslied. Bei seiner Taufe wurde es gesungen und später hatte es ihn immer wieder begleitet: „Er war in göttlicher Gestalt, … wurde Mensch, bis zum Tode am Kreuz, … Gott hat ihn erhöht, … alle sollen bekennen: Kyrios Jesus Christos; er ist der Herr.“ Ein altes Lied, es gibt ihm Trost in schweren Tagen, wird zur Quelle neuer Kraft und Hoffnung. Paulus beschließt, dieses Lied auch seiner Gemeinde in Philippi zu schreiben, gleichsam als Vermächtnis aus der Todeszelle. Es ist der heutige Predigttext, im Philipperbrief im 2. Kapitel die Verse 5-11. Es ist gut, diesen Hintergrund zu nicht zu vergessen, wenn wir diesen Christushymnus jetzt miteinander bedenken.  

 

„Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

 

Es ist ein Lied, – nicht trockene, dogmatische Theorie, wie man sich Christus als wahren Gott und wahren Menschen vorzustellen habe. Darüber sollen sich die Theologen den Kopf zerbrechen; ich bin ja auch einer von diesen. Aber es ist ein Lied, mitten im Leid gesungen, voll Staunen über Christus und seinen Weg, den er gegangen ist, zu uns und für uns und den er mit uns fortsetzen will. Ein Lied voller Vertrauen, das den Sohn Gottes rühmt, der zum Menschenbruder wurde und auch in den dunkelsten Nächten des Lebens uns zur Seite steht. Und wenn wir dieses Lied singen, dann bekennen auch wir ihn als unsern Herrn, allen anderen Herren und Mächten dieser Welt zum Trotz.  

 

Vielleicht sollten auch wir mehr singen, gerade angesichts mancher persönlichen Nöte und Schicksalsschläge, gerade auch in einer Zeit wie dieser mit Krisen und Kriegen und lauter unlösbaren Problemen: Singen, sei es in Dur oder Moll, als Klage oder Protestlied, als Hilferuf und immer wieder als Lobgesang: Gott, du bist da! Selbst in schweren Zeiten und auch noch im Tode. Dein bin ich und bleibe ich, jetzt und für immer! Liebe Chor-Sängerinnen und –Sänger, es fügt sich gut, dass ihr gerade heute in diesem Gottesdienst mitwirkt. Danke für euern Gesang, er ist eine Medizin für Leib und Seele.

 

„Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ Das kennzeichnet einen Christen, eine Christin, dass er oder sie mit Christus zusammengehört, in der Freude und auch im Leid. Und das ist das Wesen einer christlichen Gemeinde, dass sie sich verbunden weiß mit Christus. der in ihrer Mitte lebt und wirkt. Dann kann und wird in einer Gemeinde auch noch vieles andere passieren, und das ist gut so. Aber das Fundament, auf dem alles andere steht, ist Christus. Mag sich auch im Lauf der Zeiten manches verändern oder gar aufhören, dennoch hat die Kirche eine Zukunft. Diese Gemeinschaft mit Christus, lasst sie uns als Einzelne wie auch als Kirchengemeinde hier am Ort immer wieder suchen und leben und davon singen!

 

„Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“ Das ist der Weg Jesu: von oben nach unten, vom göttlichen Glanz in den Staub dieser Erde, von der Herrlichkeit des Vaters in den Stall von Bethlehem und zum Kreuz auf Golgatha. Unser Weg sieht oft ganz anders aus: von unten nach oben, auf der Karriereleiter eine Sprosse nach der anderen, immer mehr Wissen, mehr Macht, mehr Geld, mehr Ruhm und Ehre. In gewisser Weise ist das auch normal und berechtigt, besonders in jungen Jahren. Aber eben nur in gewisser Weise, sofern es nicht zum einzigen Lebensziel wird. Sonst ist der Preis dafür sehr groß, zu groß und mit verheerenden Folgen für einen selbst und für andere. Das Konzept „Immer mehr, immer mehr Wachstum“ ist ja bekanntlich die Strategie eines Krebsgeschwürs. Wir dürfen bei aller Himmelsstürmerei nicht vergessen: die höchste Würde und das letzte Ziel eines Menschen ist, Mensch zu sein. „Sei ein Mensch,“ so hat Marcel Reif bei der diesjährigen Feierstunde im Bundestag anlässlich des Holocaust-Gedenktags das Vermächtnis seines in Auschwitz ermordeten Großvaters zusammengefasst. Kein Übermensch, kein Unmensch, sondern nur ganz einfach: Mensch. Hat nicht auch Jesus durch seine Menschwerdung dieses Ziel uns vor Augen gestellt? Und er ist ihm treu geblieben, bis zu seiner letzten Stunde. Sogar Pilatus musste das bezeugen, als Jesus verhöhnt und gemartert vor ihm stand: Ecce homo, seht, welch ein Mensch.

 

„Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Das hätte sich wohl Pilatus nicht träumen lassen, auch Kaiphas und die Mitglieder des Hohen Rates nicht, ganz zu schweigen von Kaiser Tiberius in Rom und all die anderen Machthaber, die damals wichtig waren oder meinten, sie wären wichtig. Heute fristen sie alle bestenfalls ein Schattendasein in den Geschichtsbüchern, wenn überhaupt. Wir aber haben uns heute hier im Namen Jesu versammelt. Wir singen: „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn.“ Wir wissen uns als Teil einer Christenheit, die über die ganze Welt verbreitet ist und die sich heute ebenfalls überall zum Gottesdienst versammelt. Und während bei uns die Gottesdienste leerer und die Gemeinden kleiner werden, ist zugleich das Christentum in China und Afrika eine der am schnellsten wachsenden Religionen, und die Mehrzahl derer, die an Jesus glauben, ist auf der Südhalbkugel der Erde. Wir haben das bisher bloß noch nicht bemerkt. Freilich sind die Christen aber auch jene, die am meisten um ihres Glaubens willen verfolgt werden. Es ist das große Geheimnis Gottes, dass der Weg, der für uns am Karfreitag zu enden scheint, zum Ostermorgen führt und heute Menschen in aller Welt und aller Generationen den Gekreuzigten und Auferstandenen als ihren Herrn und Heiland bekennen. Es täte uns darum gut, wenn wir uns das immer wieder bewusstmachten und unsern Glauben nicht als Kopfhänger und Jammerverein zelebrierten, sondern mit Freude und Selbstbewusstsein bekennen: Kyrios Jesus, unser Herr ist Christus.

 

Übrigens, was den Apostel Paulus betrifft, so wissen wir nichts Genaues, ob er damals noch einmal aus dem Gefängnis freikam. Nach der Überlieferung soll er im Jahr 64 unter Kaiser Nero durch das Schwert hingerichtet worden sein und so den Märtyrertod erlitten haben. Für uns aber, heute und hier, gilt: Lasst uns weiterhin oder wieder neu unsern Lebensweg gehen mit Jesus, diesem Herrn aller Herren. Mit ihm, der so ganz anders ist als andere Herrscher. Er schreit uns auch nicht an: „Mitkommen! He, du da! Mitkommen!“ Er lädt uns ein, liebevoll und freundlich: Komm und folge mir nach. Das nächste Lied, das unser Chor jetzt singt, sei unser aller Antwort: „Here I am, Lord! Hier bin ich, Herr!“ Amen.



Predigt über Apostelgeschichte 1, 15-26 am 25. Februar 2024 

von Rudolf Potengowski

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! Ich lade euch ein, heute als Gäste an einer Kirchenvorstandssitzung teilzunehmen. Seid ihr bereit? – Wir sind in Jerusalem, ein Tag im Mai des Jahres 33 n.Chr., irgendwann zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. – Kirchenvorstandssitzung? werdet ihr fragen. Damals gab es doch noch gar keine Kirche. Stimmt! Also, sagen wir besser: Wir besuchen eine Sitzung des Apostelrats. Es gibt ein Protokoll dieser Zusammenkunft. Lukas hat es uns überliefert. Er selbst war zwar nicht dabei, konnte aber auf entsprechende Quellen zurückgreifen, als er 60 Jahre später seine Apostelgeschichte niederschrieb. Ich lese dort aus dem 1. Kapitel die Verse 15 – 26:

 

„Einmal während dieser Zeit trat Petrus in Kreis der Brüder auf. Es waren etwa 120 Personen versammelt. Er sagte: ‚Ihr Brüder! Was in der Heiligen Schrift steht, musste in Erfüllung gehen: Der Heilige Geist hat durch David vorausgesagt, was mit Judas geschehen wird. Judas hat ja den Männern, die Jesus festnehmen sollten, den Weg gezeigt. Dabei gehörte er doch zu uns und hatte denselben Auftrag bekommen wie wir. Von dem Lohn für die ungerechte Tat kaufte sich Judas ein Stück Land. Dort kam er durch einen Sturz ums Leben. Sein Leib platzte auf und die Eingeweide quollen heraus. Alle Bewohner von Jerusalem haben davon erfahren. Deshalb wird dieses Stück Land in ihrer Sprache ‚Hakeldamach‘ genannt. Das bedeutet ‚Blutacker‘. Denn im Buch der Psalmen steht: ‚Sein Haus soll leer stehen, niemand soll mehr darin wohnen.‘ Und: ‚Sein Amt soll ein anderer übernehmen!‘ Sein Nachfolger muss einer von den Männern sein, die schon immer bei uns waren – während der ganzen Zeit, in der Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging: angefangen von der Taufe von Johannes bis zu dem Tag, an dem Jesus in den Himmel aufgenommen wurde. Einer, auf den dies zutrifft, soll künftig gemeinsam mit uns Zeuge dafür sein, dass Jesus auferstanden ist.‘

Die Versammelten stellten zwei Männer zur Wahl: Josef, der auch Barsabbas genannt wurde und den Beinamen Justus trug, und Matthias. Dann beteten sie: ‚Herr, du kennst die Herzen aller Menschen. Zeige uns, welchen von diesen beiden du ausgewählt hast. Der soll anstelle von Judas diese Aufgabe übernehmen und Apostel werden. Judas hat seinen Platz ja verlassen, um an den Ort zu gehen, wo er hingehört.‘ Man gab den beiden Männern Lose. Das Los fiel auf Matthias, und er ergänzte den Kreis der elf Apostel.“

 

Ja, so war das damals. Und nun stellen wir uns in der Phantasie vor, wir sind auch mit dabei. Still wie ein Mäuschen stellen wir uns in eine Ecke, blicken uns um und hören zu: Es ist ein größerer Saal. Er gehört wohl jemandem aus dem Freundeskreis der Apostel. Hier hatten sie vor kurzem noch mit Jesus das Abendmahl gefeiert. Hier hatten sie sich nach seiner Himmelfahrt immer wieder versammelt, um über die Ereignisse der letzten Wochen zu sprechen und um zu beten. Viele Leute sind da, neben den Jüngern noch etwa 120 weitere Personen, Männer und Frauen, vermutlich ebenfalls Freunde und Anhänger von Jesus. 

Da wird das Stimmengewirr plötzlich unterbrochen. „Liebe Schwestern und Brüder, hört mir zu.“ In der Mitte erblicken wir eine kräftige Gestalt. Das muss Petrus sein. Sofort wird es leise im Raum. „Wir sind heute aus besonderem Anlass zusammengekommen. Unser Apostelrat hat ein Problem zu besprechen. Es ist gut, dass ihr alle da seid. So können wir gemeinsam darüber nachzudenken und vor allem auch beten.“ „Ist das eine öffentliche Sitzung und keine Geheimveranstaltung?“ ruft eine Stimme aus dem Hintergrund. „Nein, alles ist öffentlich. Jeder kann teilnehmen.“ antwortet Petrus. „Geheime Treffen, das war einmal. Neulich kamen wir zwar noch hinter verschlossenen Türen zusammen, da fürchteten wir uns vor den Spitzeln des Hohen Rates und vor den römischen Soldaten. Doch dann war Jesus, der Auferstandene, plötzlich mitten unter uns. Er hatte den Tod überwunden. Wie sollten wir uns dann noch vor Menschen fürchten?“ Ein zustimmendes Gemurmel erfüllt den Raum.

 




„Also, liebe Brüder im Apostelamt, dann wollen wir beginnen“, fährt Petrus fort, „ich hoffe, wir sind vollzählig. Kommt, wir setzen uns hier an diesem Tisch.“ Die Angesprochenen, zum Teil noch im Gespräch mit anderen, kommen herbei und nehmen Platz. Petrus lässt nachdenklich den Blick über ihre Runde schweifen. „Ja, ihr seid alle da. Andreas, du mein Bruder, was haben wir beide nicht alles erlebt, nachdem Jesus uns von den Fischerbooten in seine Nachfolge gerufen hatte! Und auch euch beide, Johannes und Jakobus, ebenfalls Brüder und Fischer vom See Genezareth. Philippus, auch du einer von der ersten Stunde. Und Thomas, schön, dass du auch heute hier bist. Matthäus, dich hatte Jesus einst vom Zoll weggeholt. Und du, Bartholomäus, und Jakobus, Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelot, und du, der andere Judas, Sohn des Jakobus. Jeder hat seine Geschichte mit Jesus gehabt. So verschieden wir auch sind, eines verbindet uns: Jesus hat uns berufen in den Kreis seiner zwölf Apostel.“ Da seufzt Johannes tief und spricht halblaut, mehr zu sich selbst: „Und nun sind wir nur noch elf.“ Auch andere haben das gehört und murmeln „Nur noch elf!“ Eine Unruhe erfasst alle im Raum, und es erklingt mehrstimmig: „Nur noch elf!“


„Ruhe!“ ruft Petrus. „Das weiß ich doch auch! Meint ihr, das lässt mich kalt? Judas Iskarioth, einer von uns, hat Jesus verraten.“ „Warum hat er das nur getan?“ wirft Philippus ein. „Der war doch nur auf Geld aus,“ meint ein anderer. Und der nächste sagt: „Ich denke, er war von Jesus enttäuscht, weil der keinen Aufstand gegen die Römer machte.“ Hin und her gehen die Vermutungen, sowohl bei den Jüngern als auch bei den anderen. Wieder ruft Petrus die aufgeregte Schar zu Ruhe. „Wir werden es wohl nie erfahren; Judas hat sein Geheimnis mit in den Tod genommen. Und was für einen schrecklichen Tod musste er erleiden bei seinem Sturz auf dem Acker.“ „Ich habe da andere Informationen,“ unterbricht ihn Matthäus, „schrecklich ist sein Ende, ja, aber er hat sich doch erhängt.“ „Nein, ich habe recht, ganz Jerusalem spricht doch davon.“ „Geschwätz der Leute, ich weiß es aus sicherer Quelle!“ „Brüder, liebt einander, streitet nicht!“ ruft Johannes dazwischen. „Ist das jetzt wirklich so wichtig? Sollten wir nicht lieber eine Gedenkminute für Judas, den Mann aus Karioth, einlegen? Er war doch einer von uns.“ „Gedenkminute für den?“ ereifert sich Petrus. Doch Johannes erwidert: „Habt ihr schon alles vergessen? Hier an diesem Tisch, als Jesus vom Verräter in unserer Mitte sprach, was haben wir da gesagt? ‚Herr, bin ich’s?‘ Du und du und du und ich, auch du, Simon Petrus. Und dann sage ich dir auch noch: Denk an den Hahn!“ Ein langes Schweigen erfüllt den Raum.  

 

„Und was machen wir jetzt?“ meldet sich Bartholomäus. „Ja, genau das ist die Frage,“ ergreift Petrus wieder das Wort. „Deshalb habe ich euch auch zur heutigen Sitzung hierhergebeten. Das ist auch unser einziger Tagesordnungspunkt: ‚Wahl eines Nachfolgers im Apostelkreis anstelle von Judas.‘ „Wieso Wahl eines Nachfolgers?“ meldet sich Jakobus zu Wort. „Wir sind jetzt nur noch elf, und so sollte es auch bleiben. Es ist wie eine offene Wunde, die uns immer wieder erinnert und mahnt.“ „Nein,“ widerspricht der andere Jakobus, der Sohn des Alphäus. Unter dem Kapitel Judas muss ein Schlussstrich gezogen werden. Am besten, wir sprechen nicht mehr von ihm, denken nicht mehr an ihn. Wir vervollständigen unsere Zwölferzahl, und dann ist wieder alles in Ordnung.“ „Wirklich alles in Ordnung?“ erwidert sein Namensvetter. „Kann man denn etwas ungeschehen machen, indem man nicht mehr darüber spricht? Nein, das wäre zu einfach. Wir sollten keinen Nachfolger bestimmen. Petrus, was meinst du?“

 

„Du hast schon recht; ursprünglich waren das auch meine Gedanken. Doch als ich neulich den Psalm 109 las, in dem sich David über einen falschen Freund beklagt, fand ich folgenden Satz: ‚Sein Amt soll ein anderer übernehmen.“ Da wurde mir klar: Das gilt auch für Judas; und das ist Gottes Wille.“ „Petrus kennt sich in den heiligen Schriften aus; da ist er ein Vorbild für uns alle,“ raunt Thomas seinem Nachbar zu. „Und vergesst nicht,“ fährt Petrus fort, „12 ist eine heilige Zahl, die Zahl der Vollkommenheit. 12 Monate hat das Jahr; 12 Stämme hat der Volk Israel, 12 steht für die Gesamtheit aller Völker auf Erden. Und zu diesen allen hat uns Jesus gesandt, um das Evangelium zu verkündigen. Da darf doch nicht einer fehlen. Wir müssen die Lücke füllen. Wir brauchen einen neuen Apostel.“

 



 


„Kann es nicht auch eine Apostelin sein?“ ruft eine Frau ganz in unserer Nähe. Zunächst ein erstauntes Schweigen. Doch dann wird es lebhaft: „Ja, sie hat recht!“ „Unmöglich!“ „Das wäre schon längst fällig gewesen!“ „Jesus hat aber nur Männer berufen.“ „Und wer hat am Ostermorgen den verzweifelten Jüngern die Botschaft gebracht, dass Jesus lebt? Es waren die Frauen, Frauen!“ „Ich schlage Maria von Magdala vor; ihr ist Jesus als erster nach seiner Auferstehung begegnet.“ Petrus wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Sitzung droht aus dem Ruder zu laufen. Er steht auf und hebt beschwichtigend die Hände. „Beruhigt euch! Ruhe! Hört mir zu.“ Nur langsam verebbt das Durcheinander der Stimmen. „Ihr Lieben, ich habe eigentlich nichts gegen die Frauen, ganz im Gegenteil. Sie haben uns ja immer wieder unterstützt und einige waren gar zeitweilig mit uns unterwegs, zum Beispiel auch Maria Magdalena. Aber …“ Er setzt sich wieder. „Aber, ich denke, die Zeit ist noch nicht reif dafür. Frauen sind bei uns ja noch nicht einmal als Zeugen vor Gericht zugelassen. Außerdem bräuchten wir erst noch eine direkte Weisung des Heiligen Geistes. Vielleicht müssen wir damit noch etwas warten, selbst wenn es noch hundert Jahre dauern sollte.“ – „Ich fürchte, es wird noch tausend Jahre dauern,“ sagt eine Frau neben uns.



„Also, einen zusätzlichen Apostel brauchen wir,“ fährt Petrus fort. „Ich denke, der sollte folgende Voraussetzungen erfüllen: Erstens: Jemand, der schon die ganze Zeit zu den Anhängern Jesu gehörte, möglichst seit den ersten Anfängen, als Johannes, der Täufer, in der Wüste predigte. Und zweitens: …“ Thomas fällt ihm in Wort: „Er muss auch dabei gewesen sein, als Jesus sich uns und anderen als der Auferstandene offenbarte. Und bei der Himmelfahrt ebenso.“ „Gibt es überhaupt welche, auf die das alles zutrifft?“ fragt Bartholomäus. Ein Raunen geht durch die Menge. Dann ruft jemand: „Hier steht einer.“ Er schiebt einen jungen Mann durch die Menge nach vorne zum Tisch der Apostel. „Das ist Barsabbas. Eigentlich heißt er Josef; man nennt ihn auch Justus, den Gerechten. Wir rufen ihn aber immer Bar-Sabbas; er ist nämlich am Sabbat geboren und darum ein Glückskind. Ich kann beschwören, der ist würdig für dieses Amt.“ Etwas überrascht und doch mit gewissem Stolz blickt dieser in die Runde und nickt: „Ja, ich wäre bereit, wenn ihr mich haben wollt.“

 

„Hier ist noch einer, der in Frage kommt,“ tönt es aus einer anderen Ecke. „Matthias, du warst doch auch die ganze Zeit bei denen, die sich zu Jesus hielten. Sei doch nicht so schüchtern.“ „Ja,“ sagt Philippus, “ich kenn dich doch. Ich musste immer aufpassen, dass ich Matthäus und Matthias nicht verwechselte. Eure Namen haben doch auch die gleiche Bedeutung: ‚Gabe Gottes.‘ Matthias, ich erinnere mich, wie oft du mir geholfen hast, wirklich wie ein Geschenk Gottes.“ „Wärst du jetzt auch für das Amt eines Apostels bereit?“ fragt Petrus. „Ich weiß nicht. … Doch, wenn es Gottes Wille ist, sage ich ja.“


Ein leises Tuscheln in unserer Nähe lenkt uns ab. „Du Stephanus, mir fällt die ganze Zeit schon der Name ‚Saul‘ ein. Kennst du einen Saul in unserm Kreis?“ „Nein, Timor, keinen. Doch halt, es gibt einen Saulus aus Tarsus, aber der gehört nicht zu uns. Der ist ein Schüler vom Rabbi Gamaliel, ein junger Fanatiker, der könnte uns noch gefährlich werden. Nein, da musst du dich getäuscht haben. Tu den Gedanken weg.“ „Du hast recht. Dennoch: Gottes Wege sind oft sonderbar.“

 

„Soweit ich sehe, haben wir zwei Kandidaten,“ hören wir wieder Petrus reden. „Oder gibt es noch jemanden? Nein. Welcher von diesen soll es nun sein? Schwestern und Brüder, lasst uns beten, damit wir erkennen, wen Gott haben möchte,“ „Ja, lasst uns beten,“ stimmen alle zu. Nach einer Zeit halblauten Gemurmels betet Petrus laut: „Herr, du kennst die Herzen der Menschen. Bitte, zeige uns doch, welchen der beiden du erwählt hast. Amen.“ Dann spricht er: „Ich habe den Eindruck, wir sollten losen, wer als Nachfolger für Judas in den Apostelkreis nachrückt. Damit wird Gott uns seine Entscheidung zeigen.“ Alle sind einverstanden und es geschieht so. Und das Ergebnis lautet: Matthias. „Herr, dein Wille geschehe.“ spricht dieser, „gib mir dazu deine Kraft und deinen Segen.“ Barsabbas, der Unterlegene, gratuliert ihm, auch wenn die Enttäuschung ihm etwas anzumerken ist. Die übrigen Apostel aber sind aufgesprungen und umarmen Matthias. „Jetzt ist unser Kreis wieder vollzählig. Gemeinsam lasst uns nun verkündigen, dass Jesus lebt.“ Alle Anwesenden klatschen Beifall und Petrus spricht: „Die Sitzung ist geschlossen.“ –

 

Ja, so war das wohl, oder so ähnlich. Alles nur eine Geschichte aus ferner Vergangenheit? Oder ist manches auch heute noch aktuell? Etwa wenn ich so viele Lücken auch hier in unserer Runde sehen. Oder die Frage: Wo ist mein Platz? Werde ich auch gebraucht, und wenn ja, wo und wie? Nein, Apostel sollen wir nicht werden. Aber Boten der Liebe Gottes, Boten des Auferstandenen in einer Welt mit so viel Angst und Tod, die sind gerade heute bitter nötig. Ob wir nun Matthias oder anderswie heißen, sind wir dazu bereit? – Gott, mach deine Kirche neu, und fange bei mir an. Amen. 


Ansprache beim Segnungsgottesdienst am 28. Januar 2024 über 1. Korinther 16, 14

„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“

von Rudolf Potengowski


Liebe Schwestern und Brüder, das ist das Motto für unseren ersten Segensgottesdienst im neuen Jahr. Ein gutes Motto! Der Apostel Paulus schrieb es im letzten Kapitel des 1. Korintherbriefs, gleichsam als Zusammenfassung von allem, was er der Gemeinde zu sagen hatte. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ oder nach der Lutherübersetzung: „Alle eure Dinge lasset in der Liebe geschehen.“

 

Als Jahreslosung für 2024 will es uns durch alle Tage dieses Jahres begleiten. Freilich, nun ist schon Ende Januar, 4 Wochen sind bereits vorbei. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ – Welche Erfahrungen haben wir bisher damit gemacht? Alles in Liebe? Wirklich alles? Zu jeder Zeit, an jedem Ort, gegenüber jedem Menschen? Kann ich das überhaupt? Will ich das auch wirklich? Alles in Liebe?

 

Paulus, du übertreibst. Das ist zu schwer; das geht nicht! – Oder vielleicht doch? Ist das so ähnlich wie bei unserm Atem? Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, etwa 23.000 Mal am Tag, ohne, dass wir uns darüber viele Gedanken machen oder gar anstrengen müssen, es sei denn, jemand ist krank. Einatmen, ausatmen, Lebenskraft, die uns durchströmt. Die Bibel erzählt, dass Adam dadurch lebendig wurde, indem Gott ihm seinen Atem einhauchte. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“  Ist es mit der Liebe vielleicht ebenso wie mit unserm Atmen, dass wir nichts machen müssen, dass es uns vielmehr gegeben wird und geschieht? Sehen wir es uns etwas näher an:

 

Womit beginnt das Atmen? – Ein Therapeut sagte mir einmal: Mit dem Ausatmen! Wenn frische Luft deine Lungen füllen soll, müssen diese erst leer werden. Alles Verbrauchte, alle Schadstoffe – erst raus damit! So ist es auch mit der Liebe: Aller Ärger, alles Lieblose, alles, was Herz und Hirn vergiftet – raus damit! Die negativen Gedanken, die Meinung, du seist nichts wert, andere können alles besser, der Hang, immer zuerst das Schlechte zu sehen – lass es los! Verabschiede dich von der Unversöhnlichkeit, der Sturheit, die nicht vergeben will, dem andern nicht und auch dir nicht. Sage: Jesus, diesen ganzen Ballast gebe ich dir. Auch wenn dadurch nicht alles auf einmal verschwindet, so will ich es doch immer wieder abgeben. Ich will frei werden für dich, mein Gott, und für deine Liebe. Und bin gewiss, du wirst mir dabei helfen.

 

Und dann einatmen, ganz tief einatmen: Gott, deine Liebe erfülle mich, bis in jede Zelle meines Körpers, in jede Regung meines Geistes. Deine Liebe, der ich mein Leben verdanke, deine Liebe, die mir half, wieder ein Jahr zu vollenden. Dass mir bei Tag die Sonne lacht und ich auch im Dunkeln nicht allein bin, dass mir in anderen Menschen immer wieder Zeichen deiner Liebe begegnen, – und dass Jesus, mein Herr und Heiland, mir im Leben und im Sterben zur Seite steht, - alles deine Liebe! Sie erfülle mich mit jedem Atemzug, Gott, du mein Glück, mein Leben.

 

Und dann wieder ausatmen. Aber jetzt nicht nur Ballaststoffe und was sich an Negativem immer wieder ansammelt. Auch die Liebe will wieder losgelassen, weitergegeben werden: In die Familie und Nachbarschaft, im Beruf und beim Einkaufen, ja, zu allen, denen ich begegne, und sogar zu den Tieren und Pflanzen, alles! „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“. Wer Liebe nur für sich behalten und genießen will, für den wird sie matt und leer. Wer nur geliebt sein will und nichts an andere weitergibt, kommt bald in Atemnot und erstickt daran. Liebe empfangen, genießen, loslassen, teilen – ein ständiger Kreislauf des Lebens, wie einatmen und ausatmen. Und ist eigentlich, eigentlich doch gar nicht so schwer.


Amen.



Predigt am 26. November 2023 in Mainburg über

„Ich glaube an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! „Piep, Sie haben ihr Ziel erreicht.“ – Kennt ihr diese Ansage? Ja, ein Navi! Ist schon eine praktische Sache, so ein Gerät. „Biegen Sie nach fünfzig Metern nach rechts ab, dann nach links und folgen Sie der Straße.“ Wer in unbekannter Gegend unterwegs ist und nicht weiß, wo es langgeht, wird damit sicher zum angegebenen Ziel gelotst – meistens jedenfalls.


Ich weiß jemanden, der in diesem Sommer mit einem breiten Campingbus unterwegs war. Im Vertrauen auf das Navi fuhr er durch die Gassen einer süditalienischen Kleinstadt; es wurde enger und enger, und dann ging gar nichts mehr, weder vor noch zurück. Ziel nicht erreicht! Die eigene Verantwortung sollte man eben doch nicht abgeben. Meistens aber ist das Navi schon eine wertvolle Hilfe, es erspart Zeit und Umwege.


Dennoch kann ich mich nicht so recht damit anfreunden, ich suche lieber selbst meinen Weg; der ist dann häufig auch viel interessanter als der sonst übliche. Wie dem auch sei, entscheidend ist aber, ob wir überhaupt wissen, wo wir hinwollen, und dann auch ankommen. Das gilt nicht nur für die Fahrt mit dem Auto. Auch für unsere ganze Lebensreise mit allen Abzweigungen, Irrwegen, Umwegen, Sackgassen ist am Ende nur das eine wichtig, ob zuletzt heißt: Sie haben ihr Ziel erreicht.   

 

Noch sind wir unterwegs. Andere nicht mehr. Wir denken heute besonders an alle, die im Lauf des Kirchenjahres verstorben sind, 17 Personen hier aus dieser Gemeinde; ihre Namen werden später noch verlesen. Und groß ist die Schar derer, die sich seit 1956, als diese Kirche erbaut wurde, hier versammelt haben und jetzt nicht mehr unter den Lebenden sind. Und nicht zuletzt gilt unsere Erinnerung heute allen, die einmal zu uns gehörten, die uns wichtig waren, die wir liebten und die uns liebten. Doch jetzt ist eine Lücke da. Nur noch auf Fotos schauen sie uns an. Sie alle haben nun ihr Ziel erreicht.   

 

Doch was ist dieses Ziel? Was ist dein und mein Ziel, zu dem wir unterwegs sind? Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube? Ein Loch in der Erde, ein Meter breit und zwei Meter lang, oder ein Urnengrab, 80 x 80 cm? Ja, das ist wohl eine Station unseres Weges. Sie bleibt keinem erspart. Aber auch das Ziel?

 

Liebe Gemeinde, vorhin haben wir, wie meistens im Gottesdienst, das Glaubensbekenntnis gesprochen. Es wird auch bei jeder Taufe gebetet, am Anfang des jungen Lebens, von dem wir nicht wissen, ob es einmal kurz oder lang sein wird. Wir sprechen es ebenso bei einer Beerdigung, wenn überdeutlich uns vor Augen tritt, wie endgültig der Abschied ist. Wir sprechen es immer wieder: „Ich glaube an Gott … usw.… usw.… und zuletzt – letzte Worte: „Ich glaube an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Das ist die Antwort des Glaubens! Das ist das Ziel, das Gott mit uns hat: Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Ist es auch deine und meine Antwort, deine und meine Hoffnung?   

 

Ich glaube! – Beweisen können wir es nicht. Das macht uns manchmal ratlos und sprachlos. Andere mögen behaupten mit naturwissenschaftlichem Scharfsinn oder Anleihen aus anderen Religionen oder esoterischen Spekulationen oder frommer Fantasie, sie wüssten, was nach dem Tode kommt. Oder sie zucken nur mit den Achseln und sagen: Naja, wenn ich tot bin, bin ich tot, und am Ende ist sowieso alles aus! Beweisen können aber diese alle auch nichts. Wenn wir aber sagen, „ich glaube“, dann setzen unser Vertrauen ganz auf Gott, und er wird uns nicht enttäuschen. Sein Eigentum sind wir, ob wir leben oder sterben. Und seine Liebe bleibt, auch wenn alles andere vergeht. Ich glaube an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Eigentlich glauben wir auch gar nicht „an die Auferstehung“, an eine Formulierung des kirchlichen Dogmas im Katechismus, sondern die Auferstehung hat einen Namen: Jesus Christus, der Auferstandene! Und der spricht: Ich lebe, und ihr sollt auch leben. An den glauben wir. Und dieser Glaube hat Folgen:

 

1.    Die Auferstehung der Toten gibt Trost: 

Trost –       weil wir dann alle quälenden Warum-Fragen, auf die wir keine Antwort finden, loslassen können, ablegen in Gottes Hände, vertrauend, dass Er es uns einmal zeigen wird.

Trost –       wenn wir nach langer Zeit, in der es uns schwerfällt zu beten „dein Wille geschehe“, schließlich an den Punkt kommen, an dem wir sagen können: „Ja, mein Gott, ja!“

Trost –       wenn wir zugleich mit dem Menschen, den wir hergeben mussten, auch einen Teil von uns selbst ins Grab legten, und dann bei allem Schmerz dennoch ganz tief unten im Herzen spüren: Alles ist gut.

 

2.    Die Auferstehung der Toten bewirkt Protest:

Protest –  gegen die Behauptung, es sei egal, wie der Mensch lebt, ob gut oder böse, am Ende wächst doch über alles Gras. Gott ist es nicht egal und keiner kann sich der letzten Verantwortung vor ihm entziehen.

Protest –    weil im Licht der Auferstehung vieles auf dieser Erde fragwürdig wird. Nicht das Geld ist letzter Maßstab aller Dinge, nicht der Erfolg und auch nicht der Beifall der Menge. Allein die Liebe zählt.

Protest – als Zeichen der Hoffnung angesichts des brutalen, mannigfaltigen Sterbens, wo das einzelne Menschenleben nichts zählt, im Mittelmeer, in der Ukraine, Israel, Gazastreifen und an vielen anderen Orten, Gott kennt sie alle, keiner ist verloren.

 

3.    Die Auferstehung der Toten schenkt Kraft.

Kraft –       um in dunklen Tagen nicht zu verzweifeln und zu denken, alles sei sinnlos. Und wenn wir sagen: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, gibt Gott neue Zuversicht, und dann geschieht schon jetzt mitten in diesem Leben ein Stück Auferstehung.

Kraft –       um in dieser von Todesmächten gezeichneten Welt nicht aufzugeben und sich immer wieder neu für die Hoffnung und für bedrohtes Leben in Nah und Fern einzusetzen.

Kraft –       wenn uns bang ist am Ende unserer Tage vor jenem letzten Weg, bei dem uns niemand begleiten kann. Aber der Auferstandene, Jesus Christus, geht mit und spricht: Fürchte dich nicht, ich führe dich heim.

 

Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Wie es aussieht, dieses ewige Leben, können wir nicht beschreiben. Es ist jenseits aller Erfahrungen von Raum und Zeit und übersteigt alle unsere Worte. Auch die Bibel spricht nur in Bildern und Vergleichen, um das Unsagbare zu sagen, z.B. in der heutigen Lesung vom neuen Himmel und der neuen Erde und der Stadt Gottes mitten unter den Menschen. Oder mit Worten des Apostels Paulus: „Dann werden wir bei dem Herrn sein allezeit.“ Wir dürfen es letztlich Gott überlassen, wie das einmal sein wird. Aber wir werden überrascht sein und staunen und uns freuen diesem Fest ohne Ende, am Ende, wenn es heißt: Ziel erreicht! Und: Amen.



Schwerter zu Pflugscharen

Predigt über Jesaja 2, 1-5 am 30. Juli 2023 in Ingolstadt St. Paulus und in Kösching


Dies ist das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, schaute über Juda und Jerusalem.

Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des Herrn, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn vom Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! Was für ein Text ist das! Und wie aktuell! Eigentlich sollte man darüber nicht predigen, – auch wenn ich jetzt genau zu diesem Zweck hier stehe. Zumindest nicht so predigen, dass nur geredet, viel geredet wird: vom Propheten Jesaja und seiner Zeit und was er wohl mit diesen Worten gemeint hat, und wie man sie heute verstehen soll und wie realistisch oder utopisch das Ganze ist. Viele Worte, menschliche Worte. Und so wird das Wort Gottes handlich gemacht, harmlos, ohne Ecken und Kanten. Dann schlägt man die Bibel zu: Also, das war‘s für heute; bis zum nächsten Mal! – Spüren wir denn nicht, wie lebendig dieses Wort ist, welche Kraft in ihm steckt? Es geht doch nicht darum, dass wir unsere Gedankenspiele mit dem Worte Gottes treiben, sondern dass das Wort Gottes in uns und durch uns etwas bewirken will. Wie der Regen, der auf dürres Land fällt, es feuchtet, in die Tiefe dringt, und dann keimt es und wächst etwas empor.

 

So ist es auch hier mit diesem Text vom Propheten Jesaja. Er ist so wichtig, dass er uns gleich zweimal im Alten Testament begegnet, nämlich auch noch beim Propheten Micha. Den Verzweifelten will er ein Zeichen der Hoffnung geben und den Erschöpften eine Quelle neuer Kraft. Aber auch ein Störenfried will er sein angesichts unseres eingespielten und angeblich alternativlosen Verhaltens und ein Protest gegenüber allen, die sagen: So ist nun einmal die Welt, du musst mit den Wölfen heulen, sonst wirst du selbst von ihnen gefressen. Dieses Wort hier hat etwas mit uns vor, mit dir und mit mir. Das kann für jeden von uns jeweils ganz verschieden sein. Doch es ist wichtig, zunächst einmal still zu werden und zu hören und zu hören. Ich lese darum diesen Text nochmals vor, und anschließend haben wir eine kurze Pause des Nachdenkens.


Liebe Gemeinde, ich möchte nun einige Beispiele nennen, an denen wir erkennen, was diese Worte bei ganz unterschiedlichen Leuten bewirkt haben.   



Da ist zunächst Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch, ein Bildhauer aus der Sowjetunion. Er stammte aus Dnipro in der heutigen Ukraine und seine monumentalen Werke sind geprägt von Stil des Sozialistischen Realismus. 1957 schuf er, vom heutigen Bibelwort inspiriert, die Statue eines muskulösen Arbeiters, in der erhobenen Rechten einen großen Hammer und in der Linken ein Schwert, auf den Boden gestützt, mit einer Spitze, die er schon zur Pflugschar umgeschmiedet hatte. 1957 – da war der Zweite Weltkrieg in der Erinnerung noch sehr gegenwärtig. 27 Millionen sowjetische Soldaten und Zivilisten kamen damals ums Leben, 14% der gesamten Bevölkerung.


Das hatte Spuren hinterlassen, das kann man nicht vergessen, bis heute nicht. 1957 – einen Frieden gab es noch immer nicht. Der Kalte Krieg spaltete die Welt, und die atomare Wettrüstung entwickelte immer bedrohlicheres Vernichtungspotential. Und Wutschetitsch schuf 1957 seine Skulptur „Schwerter zu Pflugscharen.“ Einen Bronzeabguss davon schenkte die Sowjetunion 1959 den Vereinten Nationen. Dieser steht seitdem im Garten des UNO-Hauptquartiers in New York, ein eindrücklicher Appell zum Frieden und zur Versöhnung der Völker.

Doch sogleich gab es neue Spannungen: Der Friedensplan Chruschtschows sah anders aus als die Pläne des Westens. Jeder meinte etwas Anderes, wenn er vom Frieden sprach, und die großartige Vision der Bibel rückte in weite Ferne. Starke Muskeln und ein großer Hammer, das reicht offensichtlich nicht, wenn man Frieden will. Hat Jesaja nicht davon gesprochen, dass zuvor die Völker sich auf den Weg hin zu Gott machen, um von ihm zu lernen, wie Frieden wird? Übrigens: Wutschetitsch starb 1974, mit zahlreichen Orden und Preisen ausgezeichnet. Sein Heimatort Dnipro aber wird seit mehr als einem Jahr von russischen Raketen beschossen.     


Als Zweites soll von Jugendlichen in der DDR die Rede sein, etwa um das Jahr 1980. Nennen wir sie Andreas, Stefan oder Michael. Sie wohnten in Leipzig, Görlitz oder sonst wo. Trotz staatlichem Druck hatten sie sich konfirmieren lassen und waren Mitglied in der Jungen Gemeinde. Immer wieder gab es dort heftige Debatten um die Bedrohung des Friedens durch die Aufrüstung in Ost und West. Zudem wurde ab 1978 der Wehrunterricht als verbindliches Lehrfach für alle Schüler der 9. und 10. Klassen eingeführt. Fragen der sozialistischen Landesverteidigung sollten dort erörtert und Handgranatenwurf und Schießen mit dem Luftgewehr trainiert werden. Wer sich dem verweigerte, wurde von der Schule verwiesen oder bekam keine Zulassung zum Abitur.


Als Protest hefteten sich viele Jugendliche runde Abzeichen aus Vliesstoff auf die Ärmel ihrer Jacken, das Abbild jenes Denkmals von Wuschtetitsch: Schwerter zu Pflugscharen. Nach anfänglicher Unsicherheit, schließlich war es doch ein Denkmal der Sowjetunion, reagierten Schule und Staat mit Verboten und Drohungen. Die Jacken wurden den Schülern weggenommen oder man schnitt die Aufnäher mit der Schere heraus. Manche nähten sich daraufhin nur einen runden weißen Fleck auf ihre Ärmel. Es gab Verhöre und Schikanen, und manche Eltern warnten: Michael, sei vorsichtig, du ruinierst dir deine Zukunft. Oder: Stefan, du bringst noch unsere ganze Familie in Gefahr.


Aber Jugendliche sind eben oft radikal, unbesonnen und entschieden, wenn es um ihre Überzeugung geht. Das ist auch heute nicht anders, und meistens ist es auch gut so. Der Protest von damals fand eine Fortsetzung in der verschiedenen Oppositionsgruppen der DDR und in den Friedensgebeten der folgenden Jahre. Es ist anzunehmen, dass Andreas und viele von den andern auch später bei den Demonstrationen während der friedlichen Revolution von 1989 mit dabei waren.

 

Ein weiteres Beispiel für den Einsatz für den Frieden gaben 1994 und in den Folgejahren evangelische und katholische Christen aus Deutschland. Auch mehrere aus unserer Landeskirche waren dabei. Im 50. Jahr nach Kriegsende sahen sie sich gerufen, in die Länder der einstigen Kriegsgegner zu reisen, sich dort mit Partnern aus Kirche und Gesellschaft zu treffen und stellvertretend für die deutschen Verbrechen der damaligen Zeit um Vergebung zu bitten. Sie nannten ihre Besuche „Versöhnungs-Wege“.




In kleinen Teams bereiteten sie sich jeweils auf diese Reisen vor und wurden in Erfurt in einem Gottesdienst vom Thüringer Landesbischof und dem katholischen Weihbischof ausgesandt und gesegnet. Insgesamt wurden so 23 Länder Europas besucht, u.a. Polen, das Baltikum, die Ukraine und Russland. Es fiel ihnen nicht leicht, und für die Gruppen, zu denen sie vorher Kontakt aufgenommen hatten, war es ebenso. Bewegende Szenen ergaben sich dabei: Begrüßung mit Brot und Salz, gemeinsame Gottesdienste, viele Tränen und Umarmungen. Vergebung und Versöhnung, nur so können aus Feinden Freude werden. Das ist der Weg, den uns Gott zeigt. Vergebung und Versöhnung, das brauchen wir alle bei unseren persönlichen Konflikten, und erst recht braucht es die Welt angesichts der unzähligen Gewalttaten in der Vergangenheit und Gegenwart. 


Und nach diesen Beispielen sind jetzt wir dran: Was ist deine, was ist meine Antwort auf diese Friedensvision des Propheten Jesaja? Noch ist Gottes Ziel nicht erreicht. Noch werden Waffen geschmiedet, immer mehr und immer schrecklichere, und die Rüstungsindustrie macht Milliardengewinne. Noch hungern und verhungern Menschen, weil für sie kein Geld da ist, und zudem werden die Getreidespeicher in Odessa bombardiert. Noch ist nicht die letzte Zeit, von der der Prophet spricht, die Herrlichkeit Gottes am Ende unserer Zeit ist noch verborgen.


Aber es ist Zeit, höchste Zeit, dass wir dieses Ziel Gottes ernst nehmen und einen Beitrag leisten, dass im Hier und Jetzt schon etwas davon aufleuchtet. Was ist also dein, was ist mein Beitrag? Für jeden von uns mag er anders aussehen. Wir sind auch keine Politiker oder militärische Sachverständige, und ich maße mir nicht an, im Namen Gottes über die richtigen Maßnahmen bei den gegenwärtigen Konflikten zu urteilen: das ist richtig und das ist falsch. Aber ich habe mich persönlich schon früh entschieden, als ich meinen Vater im Krieg verloren hatte: Durch meine Hand soll kein Kind seinen Vater verlieren! Auch in diesen Tagen verlieren wieder unzählige Kinder ihren Vater, in der Ukraine, in Russland und noch an vielen anderen Orten dieser Erde.


Und für mich gilt auch heute noch, was 1948 in Amsterdam bei der Gründung des Weltrats der Kirchen einmütig bekannt wurde: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Vielleicht ist es meine Aufgabe, vielleicht auch die Eure, das im privaten wie im öffentlichen Bereich immer wieder laut und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht sind wir Kriegskinder und –enkel in besonderer Weise dazu berufen beizutragen, dass die schlimmen Ereignisse von damals nicht vergessen werden. Und ich sehe auch den Auftrag, sich immer wieder zu bemühen, im eigenen Umfeld dem Hass und der Feindschaft zu widersprechen, Brücken zu bauen und nach Wegen der Versöhnung zu suchen. Wie gesagt, so ist meine Antwort; und jeder und jede von Euch hat so die seine zu geben.

 

Ach ja, Jesaja sagte, dass dann der Berg Gott höher sein soll als alle anderen Berge ringsum. Ist damit vielleicht gar der Hügel von Golgatha gemeint? Und dort steht ein Kreuz, mitten im Leid dieser Welt und zugleich hoch erhoben. Dort ist der wahre Friedensfürst, Jesus, und er lädt alle zu sich ein. – Kommt nun, ihr vom Hause Jakob und natürlich auch ihr alle, ihr Leute von St. Paulus, kommt, lasst uns wandeln im Licht des Herrn! Und mag es auch noch so dunkel sein in dieser Welt.


Amen.


Predigt über 1. Korinther 13, 13

am 27. Februar 2022

in St. Paulus, Ingolstadt und in Kösching

Pfarrer i.R. Rudolf Potengowski

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!


Eigentlich wollte ich heute eine ganz andere Predigt halten. Diese Maske hier sollte ein Impuls sein zum Nachdenken, welche Rolle Masken in unserm Leben spielen, im Fasching, in Corona-Zeiten und auch sonst noch. Aber das ist jetzt nicht mehr aktuell. Putin hat durch seinen Angriff auf die Ukraine seine Maske fallen lassen und darunter die Fratze eines skrupellosen Kriegsherrn gezeigt. Wir sind betroffen und ratlos und fragen uns, was noch alles kommen mag. Die Medien sind voll von Berichten, Analysen und Ratschlägen, was geschehen sollte.


Jetzt sind die Politiker gefragt, und ich hoffe, sie haben die entsprechende Weisheit und Entschlossenheit. Was aber hier in diesem Gottesdienst geschehen soll, ist, dass wir mit allem, was uns bewegt, zu Gott kommen, dass wir seine Nähe suchen, unsere Ängste ihm bringen, um Klarheit der Gedanken bitten und nach Konsequenzen für unser persönliches Verhalten fragen. Und es ist unsere Aufgabe zu beten: für die Menschen in der Ukraine, für die Verantwortlichen in Politik und Medien, für den Frieden in der Welt. Und wir fragen: Herr, was will du uns sagen in dieser Situation? Was ist deine Botschaft in dem Wirrwarr der Stimmen, das uns gegenwärtig erreicht?

 

Eines ist uns in diesem Tagen jedenfalls deutlich geworden, nämlich wie verletzlich wir alle sind, und dass es keinesfalls sicher ist, dass unser Leben morgen und übermorgen so normal weitergeht, wie es bisher war. Eigentlich ist das ja keine Neuigkeit. Naturkatastrophen als Vorboten des Klimawandels haben uns im vergangenen Jahr aufgeschreckt. Corona-Viren haben schon seit Anfang 2020 unsern Alltag verändert. Und nun dieser Krieg mitten in Europa: Raketenbeschuss und Bombenalarm, Verwundete und Tote, Flüchtlingen an den Grenzen. Nur die Älteren unter uns kennen noch solche Bilder aus eigener Erfahrung. Dazu haben wir alle auch noch die verschiedensten Krisen und Katastrophen im persönlichen Umfeld zu verkraften. Und was noch alles auf uns wartet, wissen wir nicht. Aber wir ahnen: Es wird Folgen haben, und ein Zurückkehren zu dem, wie es einmal früher war, wird es wohl nicht geben. Wir leben in einer gefährlichen und gefährdeten Welt.

 

Und genau an diesem heutigen Tag und in der jetzigen Situation hören wir als Lesung für diesen Sonntag das 13. Kapitel aus dem 1. Korintherbrief. Es ist ein klassisch schöner Text und wir nennen ihn das „Hohelied der Liebe“. Es gipfelt im letzten Vers in den Worten: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“


Bei allen Veränderungen, inmitten unserer Verunsicherungen und Ängsten, bei allem, was vergeht: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Liebe Gemeinde, daran wollen wir uns festhalten, das soll der Maßstab unseres Handelns sein, das soll gelten, wenn alles andere zerbricht.


Was bleibt, ist der Glaube.


Er richtet unsern Blick auf Gott und lässt uns sprechen: „Mein Gott, verlass mich nicht! Ich bin dein, was auch kommen mag, ob ich lebe oder sterbe, bei dir bin ich geborgen. Du bist es, dem Himmel und Erde gehören. Du bist es, der die Geschicke der Völker lenkt. Du wirst auch mich nicht vergessen.“ Manchmal fällt es uns nicht leicht, so zu sprechen und zu glauben.


Zuweilen hat es den Anschein, als wäre diese Erde nur ein Tummelplatz des Bösen, und wer da noch von einem allmächtigen und barmherzigen Gott spricht, ist ein Narr. Der Glaube ist immer ein angefochtener Glaube. Als das Volk Israel in die babylonische Gefangenschaft geführt wurde und Jerusalem samt dem Tempel nur noch eine rauchende Ruinenstätte war, betete es: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, und seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und seine Treue ist groß.“ Als im Dreißigjährigen Krieg das Land durch marodierende Truppen und Pest verwüstet wurde, dichtete Paul Gerhardt: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“


Und als 1942 unter Stalin die Deutschen in der Sowjetunion von der Wolga und dem Schwarzen Meer nach Sibirien verschleppt wurden und viele dem Terror zum Opfer fielen, da traf man sich heimlich zum Bibellesen und Gebet und sang „So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich.“ Viele sagten später, als sie nach Ingolstadt und in meine Gemeinde kamen: „Der Glaube war unser Halt in diesen schweren Zeiten.“ Der Glaube ist kein Schönwetterglaube, der für gute Stimmung sorgt und garantiert, dass es uns immer gut geht. Er hat seine Bewährungsprobe gerade dann, wenn es ungemütlich für uns wird. Ihr Lieben, lasst uns in diesen Tagen neu und intensiv um einen solchen festen Glauben bitten.

 

Und was bleibt, ist die Hoffnung.


Ihr kennt vielleicht die Geschichte von den zwei Fröschen, die in einen Topf mit Sahne gefallen sind. Der eine der beiden sagt: „Ade, du schöne Welt. Ich komme hier nicht mehr raus. Zwecklos, noch irgendetwas zu unternehmen.“ Und er geht unter und stirbt. Der andere aber sagt: „Vielleicht ist es zwecklos, aber ich gebe nicht auf.“ Und er strampelt und strampelt so lange, bis seine Kräfte erlahmen. Doch da hat sich durch sein Strampeln ein Butterklumpen gebildet. Auf den rettet er sich und springt aus dem Topf heraus. Nun sind wir keine Frösche und unsere Welt ist auch kein Sahnetopf. Aber es wäre verhängnisvoll, zu kapitulieren vor allem Gefährlichem und Gemeinem auf dieser Erde. Die Hoffnung macht uns Mut zu glauben, dass das Gute dennoch eine Chance hat, und dass es trotz allem sinnvoll ist, sich für Frieden und Versöhnung einzusetzen.

 


Die Hoffnung bewahrt uns davor, Böses mit Bösem zu vergelten, weil es angeblich keine Alternative dazu gibt, und dadurch nun selbst böse zu werden, Die Hoffnung gibt uns die Kraft, jeden Tag neu aufzustehen und uns an die Arbeit zu machen, auch wenn es uns schwerfällt und wir nicht wissen, ob wir Erfolg haben werden. Die Hoffnung unterscheidet sich von illusionären Luftgespinsten und billigen Vertröstungen, denn sie ist verankert in Gott, der ein Gott der Hoffnung ist, der uns und diese Welt noch nicht aufgegeben hat und auch nie aufgeben wird, selbst, wenn wir scheitern sollten. Und an Ende wird alles gut.


Und was bleibt, ist die Liebe.


Unscheinbar und schwach scheint sie zu sein, wie ein kleines Licht in einer großen Dunkelheit voller Lüge, Hass und Gewalt. Sie wird verachtet als romantische Gefühlsduselei, die der Wirklichkeit nicht standhalten kann. Sie passt nicht in das Kalkül der Mächtigen und kommt unter den Zwängen alternativloser Notwendigkeiten unter die Räder. Und doch: Was bleibt, ist die Liebe. Denn in ihr wohnt eine Kraft, die stärker ist als alle Mächte der Finsternis, ja stärker als der Tod. Es ist die Kraft, die von Gott kommt, denn Gott ist die Liebe.


Und Gott hat seiner Liebe ein Gesicht gegeben, er lässt uns in der Person von Jesus Christus in sein Herz blicken. Ja, auch er wurde von vielen nicht ernst genommen, verhöhnt, geschlagen und an Kreuz geheftet. Wir stehen gerade am Beginn der Passionszeit, um sein Leiden zu bedenken und ihm darin nachzufolgen. Aber der vermeintliche Triumph seiner Widersacher am Karfreitag erwies sich am Ostermorgen als Sieg des Lebens. Und diese Liebe bleibt und hat Zukunft, auch in unseren Tagen. Sind wir bereit, uns ihr zu öffnen und unsern Weg mit ihr zu gehen? Unsere Welt braucht viel Liebe, unsere Umgebung braucht viel Liebe, wir brauchen viel Liebe, gerade in schweren Zeiten.

 

Vieles, was heute wichtig ist, wird vergehen, wird zur Seite gelegt wie eine Faschingsmaske, wenn ihre Zeit vorbei ist. Das kann schneller gehen, als wir manchmal denken. Aber bleiben werden diese drei, Glaube, Hoffnung und Liebe; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.


Amen. 



Predigt über 2. Korinther 5, 1-10

14. November 2021 in Manching, Christuskirche

(Pfarrer i.R. Rudolf Potengowski)


Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!


Ein Möbelwagen ist in der Nachbarschaft vorgefahren. Ein Umzug, auf den man sich lange vorbereitet hatte. Was soll man mitnehmen, was bleibt hier? Der Platz in der neuen Wohnung reicht nicht für alles, was sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte: alte Möbel, Kleidung, Bücher, DVDs. Was braucht man davon in Zukunft wirklich noch? Jetzt ist die Stunde des Abschieds gekommen. Noch ein wehmutsvoller Blick zurück und in einer Mischung von banger Erwartung und Vorfreude auf das Neue fährt der Möbelwagen los.

 

Ein Leichenwagen ist in der Nachbarschaft vorgefahren. Ja, man wusste, irgendwann wird es soweit sein. Aber bis dahin ist noch Zeit. Doch dann ging es überraschend schnell, viel zu schnell. Es ist doch noch so viel zu erledigen. Was muss man nun alles zurücklassen! Wie wenig kann man mitnehmen! Im Grunde genommen: nichts, gar nichts. Auch ein Umzug, der letzte, endgültige Umzug.

 

Wann wird bei dir, bei mir einmal dieser letzte Umzugswagen vorfahren? Sind wir dann dazu bereit? Eigentlich sollten wir uns doch darauf vorbereiten. Aber wie? Und wie können wir trotz kommenden Todes, oder vielleicht gerade deshalb, heute gut und glücklich leben und, wenn dann unsere Stunde kommt, im Frieden sterben?

 

Seit Urzeiten haben sich Menschen aller Kulturen und Religionen darüber Gedanken gemacht. Auch der Apostel Paulus kommt in seinen Briefen immer wieder darauf zu sprechen. Hören wir heute, was er im zweiten Brief an die Korinther im 5. Kapitel in den Versen 1 – 10 dazu schreibt. Er verwendet dabei ebenfalls das Bild von Umzug von einem alten in ein neues Haus. Zudem vergleicht er das Sterben mit dem Ausziehen von alter und dem Anziehen von neuer Kleidung und mit dem Heimkommen eines Wanderers nach langem Unterwegssein. Ich lese seine Worte nach der Übersetzung der Basis-Bibel:

 

„Wir wissen ja: Unser Zelt in dieser Welt wird abgebrochen werden. Dann erhalten wir von Gott ein neues Zuhause. Dieses Bauwerk ist nicht von Menschenhand gemacht und wird für immer im Himmel bleiben. Darum seufzen wir und sehnen uns danach, von dieser himmlischen Behausung gewissermaßen umhüllt zu werden. Wir werden nicht nackt dastehen, wenn wir einmal unser Zelt in dieser Welt verlassen müssen. Doch solange wir noch in dem alten Zelt leben, stöhnen wir wie unter einer schweren Last. Wir würden diese Hülle am liebsten gar nicht ausziehen, sondern die neue einfach darüberziehen. So könnte das, was an uns vergänglich ist, im neuen Leben aufgehen. Auf jeden Fall hat Gott selbst uns darauf vorbereitet. Er hat uns als Vorschuss auf das ewige Leben seinen Geist gegeben. So sind wir in jeder Lage zuversichtlich. Wir sind uns zwar bewusst: Solange wir in unserem Körper wohnen, leben wir noch nicht beim Herrn. Unser Leben ist vom Glauben bestimmt, nicht vom Schauen dessen, was kommt. Trotzdem sind wir voller Zuversicht. Am liebsten würden wir unseren Körper verlassen und beim Herrn leben. Deswegen ist es für uns eine Ehrensache, ihm zu gefallen. Das gilt, ob wir schon zu Hause bei ihm sind oder noch hier in der Fremde leben. Denn wir alle müssen einmal vor dem Richterstuhl von Christus erscheinen. Dann bekommt jeder, was er verdient. Es hängt davon ab, ob er zu Lebzeiten Gutes oder Böses getan hat.“

 

Sterben ist wie ein Umzug – und wer umzieht, der sollte wissen, wohin es geht, der sollte tunlichst auch eine Bestätigung von seiner neuen Bleibe haben, und er sollte nicht vergessen, zuvor noch einiges Wichtige zu erledigen.

 


1. Wer umzieht, sollte wissen, wohin es geht. Wir wissen – so beginnt Paulus seinen Gedankengang über unser Unterwegssein hin zum ewigen Zuhause. Wir wissen: unser Zelt in dieser Welt wird abgebrochen werden. Die Lutherübersetzung spricht von einer irdischen Hütte, die einmal vergeht. Ja, das wissen wir. Natürlich ist das Leben im Zelt etwas Schönes. Vielleicht erinnert ihr euch an solche herrlichen Urlaubstage auf einem Campingplatz.

Aber einmal ist Schluss, dann wird wieder abgebaut. Und das Wohnen in einer Hütte kann recht romantisch sein. Aber im Laufe der Zeit hört die Romantik auf: wenn die Balken morsch werden, wenn der Wind hindurchpfeift und es hineinregnet. Im Laufe der Zeit wird auch bei uns manches beschwerlicher: Wenn die Schritte unsicherer werden und wir uns fragen: Warum bin ich nur so schnell müde? Wenn das Auge nicht mehr so scharf, das Gedächtnis nicht mehr so zuverlässig und das Kniegelenk aus Titan ist. Na, du altes Haus, heißt es dann. Alles hat seine begrenzte Zeit. Ja, das wissen wir.

Und dann? Freilich, wir wissen auch: dann wird ein Grab ausgehoben, 1,00 m breit, 2,20 m lang, 1,60 m tief; bei einem Urnengrab sind es nur 80 auf 80 auf 80 cm. Und sonst? Viele sagen: dann ist nichts. So wie bei einem Computer, der verschrottet wird: kein Strom mehr, Festplatte kaputt, alle Dateien verloren, ausgeschlachtet im Recyclinghof auf wiederverwertbare Reste.

Nein, und nochmals nein, sage ich: Ich bin kein Computer und der Mensch, den ich liebte und nun unter der Erde liegt, der war auch kein Computer. Und die materialistische Weltanschauung, die den Menschen reduziert auf chemische und elektrische Prozesse, ist zutiefst unmenschlich und falsch.


Das kann nicht alles sein! Wir erhalten von Gott ein neues Zuhause, sagt Paulus. Wie das konkret aussieht, dieses neue, himmlische Haus, ist für uns schwer vorstellbar. Noch sind wir unterwegs dorthin, gebunden an Erfahrungen von Raum und Zeit, die dann nicht mehr gelten. Deshalb spricht auch der Apostel Paulus davon nur in Vergleichen und Bildern. Was uns erwartet, übersteigt unser Denken. Aber wir werden erwartet. Erwartet von dem, der gleich uns durch dieses menschliche Leben mit seinem Glück und Leid hindurchgegangen ist und nun jenseits des Todes auf uns wartet: Jesus Christus. „Dann werden wir beim Herrn sein allezeit“, schreibt Paulus einmal an anderer Stelle. Das ist das Ziel, das ist die Ewigkeit. Neulich sagte ein Freund zu mir: „Ich kann mir die Ewigkeit nicht vorstellen.“ Ich antwortete: „Das musst du auch nicht. Überlasse es Gott. Er wird uns überraschen.“

 

2. Wer umzieht, der sollte tunlichst auch eine Bestätigung seiner neuen Bleibe haben. Irgendetwas Festes wäre dann schon gut, etwa der Schlüssel für die neue Wohnung. Noch bin ich nicht da, aber den Hausschlüssel, den habe ich schon! Das macht froh und erwartungsvoll! Ach, wenn es doch für unser himmlisches Zuhause auch so etwas wie einen Schlüssel gäbe! Ja, den gibt es, schreibt Paulus: Gott hat uns als Vorschuss auf das ewige Leben seinen Geist gegeben. Gott hat uns nicht im Ungewissen gelassen. Er hat uns schon heute etwas geschenkt, gleichsam eine erste Anzahlung für das große Ganze, das auf uns wartet: seinen Geist. Durch ihn lässt uns Gott schon jetzt da und dort so ein Stück Himmel auf Erden spüren. Im Glück der Liebe gibt er uns eine Ahnung von der ewigen Liebe, aus der wir kommen und zu der wir gehen. Beim Staunen über die Wunder der Natur berührt uns der Finger Gottes, der dies alles und auch uns ins Dasein rief.

Im vertrauensvollen Reden und Schweigen miteinander haben wir manchmal den Eindruck, jetzt war Gott dabei als der Dritte im Bunde. Wenn beim Gebet Friede im unruhigen Herzen einkehrt und wir beim Abendmahl uns Jesus ganz nah fühlen, dann wirkt der Heilige Geist – Gottes Kraft, seine Gegenwart mitten in diesem irdischen Leben.


Freilich, es ist nicht immer so und ich wünschte, es könnte häufiger sein. Oder sind wir vielleicht auch nicht sensibel genug für dieses Wirken des göttlichen Geistes? Auf jeden Fall aber pflanzt er eine Sehnsucht in unser Herz, eine Sehnsucht nach mehr, als diese Welt uns geben kann, wo alles Glück nur vergänglich und alles Irdisches nur ein Abglanz der ewigen Vollkommenheit ist. Einen Vorgeschmack darauf aber, den lässt uns Gott durch seinen Geist schon heute kosten.


3. Wer umzieht, sollte nicht vergessen, zuvor noch einiges Wichtige zu erledigen. Manche nehmen dann ein großes Blatt Papier und schreiben darauf alles, was unbedingt noch gemacht werden muss: Strom ablesen, Müll wegschaffen, Nachbarn verabschieden, Katze mitnehmen usw. Das ist dann eine To-Do-Liste, und bei allem, was erledigt ist, macht man einen Haken: fertig! Was steht auf unserer persönlichen To-Do-Liste? Was ist noch zu tun, bevor wir zur letzten Reise aufbrechen? Das mag für jeden von uns verschieden sein. Für manche reicht vielleicht ein Zettel Papier gar nicht, um das alles aufzuschreiben, und wahrscheinlich reicht auch die Zeit nicht, um alles zu verwirklichen, was wir uns für dieses Leben noch vorgenommen haben. Was ist aber dann das Wichtigste, das Allernotwendigste, das Unverzichtbare? Im Grunde genommen sind es wohl nur diese drei Worte: lieben – und lieben – und lieben. Das allein zählt und nur danach werden wir gefragt, wenn wir uns einmal in der Ewigkeit vor unserm Schöpfer verantworten müssen. Im heutigen Evangelium, dem Gleichnis vom Weltgericht, fragt Christus nicht: Was hast du geleistet, was hast du besessen, ja nicht einmal: was hast du geglaubt? Sondern nur: Hast du geliebt? „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ An geschenkter oder verweigerter Liebe entscheidet sich, ob unser Leben gelungen ist oder ob wir gescheitert sind.

 

Nun, liebe Gemeinde, wie geht es euch, wenn ihr den Ernst dieser Worte bedenkt? Ist es so ähnlich wie bei mir? Ich werde unsicher und betroffen frage ich: Wie kann ich da vor Gott bestehen? Ach, wenn ich doch bei der To-Do-Liste meines Lebens hinter dem Wort „Liebe“ einfach einmal einen Haken machen könnte: Erledigt. Nein, es ist nicht erledigt, und es wird wohl auch nie erledigt sein. Wenn wir immer wieder merken: Eigentlich wollte ich nur Gutes und bewirkte dann doch Schlechtes. Wenn wir erkennen: so viele fromme Worte machen wir und sind doch gleichgültig und abgestumpft geworden gegenüber dem vielen Leid in der Welt, ja sogar in der eigenen Umgebung. Und wenn wir an einem Grab stehen, dann kommt der Gedanke: Eigentlich hätte ich noch mehr, noch viel mehr lieben sollen.

 

Was sagt dann unser himmlischer Richter? Vielleicht: „Ja, das schmerzt, und versäumte Gelegenheiten lassen sich nie wieder zurückholen. Du kannst aber um Vergebung bitten. Und nutze die Zeit, die du jetzt noch hast. Bitte darum, dass ich dir dabei helfe. Mein Geist will dein Herz berühren, dir die Augen öffnen, deine Hände zur Tat stärken. Aber bedenke: Du musst nicht vollkommen sein. Vollkommen ist nur einer, dein Gott, der aus Liebe zu dir den Weg ans Kreuz ging und durch den Ostersieg auch deinen Tod schon besiegt hat.“ Ja, das wird er vielleicht sagen; ja, das hoffe ich. Und ich werde dann antworten, bei aller Bruchstückhaftigkeit meines Lebens und Liebens: „Du ewige Liebe, so wie du einst dem Schächer zu deiner Seite am Kreuz Anteil gegeben hast an deinem Paradies, so lass auch mich bei dir mein ewiges Zuhause finden.“

 

Und dann? Der Kirchenvater Augustinus und große Interpret des Apostels Paulus hat einmal gesagt: „Da werden wir feiern und schauen, schauen und lieben, lieben und preisen. So wird es sein ohne Ende am Ende.“ Amen.


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