Ein Herz, das sieht – und handelt.

Predigt über Lukas 16, 19-31

vom 22. Juni 2025 in Brunnenreuth

Pfarrer i.R. Rudolf Potengowski

 

„Einst lebte ein reicher Mann. Er trug einen Purpurmantel und Kleider aus feinstem Leinen. Tag für Tag genoss er das Leben in vollen Zügen. Aber vor dem Tor seines Hauses lag ein armer Mann, der Lazarus hieß. Sein Körper war voller Geschwüre. Er wollte seinen Hunger mit den Resten vom Tisch des Reichen stillen. Aber es kamen nur die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Dann starb der arme Mann, und die Engel trugen ihn in Abrahams Schoß. Auch der Reiche starb und wurde begraben. Im Totenreich litt er große Qualen. Als er aufblickte, sah er in weiter Ferne Abraham und Lazarus an seiner Seite. Da schrie er: ‚Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir! Bitte schick Lazarus, damit er seine Fingerspitze ins Wasser taucht und meine Zunge kühlt. Ich leide schrecklich in diesem Feuer.‘ Doch Abraham antwortete: ‚Kind, erinnere dich: Du hast deinen Anteil an Gutem schon im Leben bekommen – genauso wie Lazarus seinen Anteil an Schlimmem. Dafür findet er jetzt hier Trost, du aber leidest. Außerdem liegt zwischen uns und euch ein tiefer Abgrund. Selbst wenn jemand wollte, könnte er nicht von hier zu euch hinübergehen. Genauso kann keiner von dort zu uns herüberkommen.‘ Da sagte der Reiche: So bitte ich dich, Vater: Schick Lazarus doch wenigstens zu meiner Familie. Ich habe fünf Brüder. Lazarus soll sie warnen, damit sie nicht auch an diesen Ort der Qual kommen.‘ Aber Abraham antwortete: ‚Sie haben doch Mose und die Propheten: Auf die sollen sie hören!‘ Der Reiche erwiderte: ‚Nein, Vater Abraham! Nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie ihr Leben ändern.‘ Doch Abraham antwortete: ‚Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören – dann wird es sie auch nicht überzeugen, wenn jemand von den Toten aufsteht.‘“ (Basis-Bibel)

 

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde!

Fünf Brüder hatte er, der reiche Mann. Sie kamen alle zu seiner Beerdigung. Mehr oder weniger betroffen standen sie an seinem Sarg. Eine große Trauergemeinde hatte sich eingefunden. Der Pfarrer predigte, die Blaskapelle spielte, die Vorstände der Freiwilligen Feuerwehr und des Sportvereins legten Kränze nieder. Eine richtig große, würdige Zeremonie.

 

Fünf Brüder hatte er, der Verstorbene. Er war der Älteste. Übrigens: Er hieß Rainer. Aber unter diesem Namen kannte ihn kaum jemand. Für die meisten war er nur „der Reiche“ oder „der Boss“, und das gefiel ihm auch. Seltsam, dass manche Leute ausschließlich so gesehen und beurteilt werden, wieviel Geld oder welche soziale Stellung sie haben, alles andere sei unwichtig.

 

Seine Brüder hatten natürlich auch alle einen Namen. Der erste hieß Peter und war Politiker. Nein, nicht einer von den ganz Großen, die die Welt bewegen. Aber groß war er schon, und ohne ihn ging in der Stadt nichts.

 

Der zweite hieß Volker und war Mitglied im Vorstand einer bekannten großen Autofirma. Mit Ausdauer und Fleiß hatte er sich emporgearbeitet, bis in die Chefetage. Über die Höhe seines Gehalts schwieg er sich lieber aus; für ein angenehmes Leben reichte es allemal.

 

Der dritte war Tommy. Eigentlich Thomas, aber für seine Fans war er nur der Tommy. Er hatte eine ganz andere Karriere hingelegt. Als Fußballer in der Ersten Bundesliga war er ein gefürchteter Torschütze, und ständig wurde er mit der Bitte um Autogramme bestürmt.

 

Der vierte, der Jüngste, hieß Manfred. Der hatte erst Mathematik studiert, dann Informationstechnologie und war schließlich bei der Künstlichen Intelligenz gelandet. Als Spezialist auf diesem Gebiet hatte er eine große Zukunft vor sich.

 

Und der fünfte Bruder … Ja, wer ist nun der fünfte Bruder? Oder ist er gar eine Schwester? Von Frauen war bisher überhaupt noch nicht die Rede, und doch ist das hier keine reine Männergeschichte. Der Fünfte, die Fünfte? Bist du es? Oder du? Oder ich? Ach nein, zu einer solchen illustren Gesellschaft passen wir doch gar nicht. Macht, Reichtum, Ehre – davon haben wir nicht allzu viel vorzuweisen. Vielleicht ein bisschen, nur ein kleines bisschen. Aber was sollte daran schon verkehrt sein? Es ist doch ganz normal, sich ein möglichst angenehmes Leben zu wünschen. Sich etwas leisten können, genießen können, angesehen sein, Spaß haben. Nein, damit sind wir doch keine schlechten Menschen. Die anderen Brüder übrigens auch nicht, und der Verstorbene, der Reiche, ebenfalls nicht. Alle ganz normale Menschen. Die einen nur mit etwas mehr Erfolg und die anderen etwas weniger. Und in Einem sind wir auch alle gleich, ob mehr oder weniger bemittelt oder berühmt: Wir müssen alle immer wieder Abschied nehmen an offenen Gräbern, bis wir eines Tages selbst im Sarg liegen.   

 

Nach der Beerdigung sitzen die Fünf noch beim Leichenschmaus zusammen, nicht gemeinsam mit anderen Trauergästen, nur sie allein. Sie haben sich lange nicht gesehen, und da gibt es doch einiges zu besprechen. „Ja, das ist schnell gegangen. Damit habe ich nicht gerechnet.“ „Ich auch nicht. Gut, er hatte Probleme mit dem Herzen und seine Lebensweise war auch nicht gerade die gesündeste. Aber mit fünfzig denkt man noch nicht ans Sterben.“ „Vielleicht sollte man es doch!“ „Jedenfalls hatte er einen schönen Tod, ganz plötzlich und ohne lange Leidenszeit.“ „Also, ich möchte so unvorbereitet nicht gehen. Ich hätte vorher schon noch einiges zu erledigen.“ „Hat er eigentlich ein Testament gemacht? Er war doch alleinstehend, und wir sind seine Erben.“ „Vergesst nicht, ich hatte immer den besten Draht zu ihm.“ „Bilde dir nur nicht zu viel ein. Schließlich sind wir andere auch noch da.“ „Streitet nicht, beim Erbschaftsgericht wird sich die Angelegenheit schon klären.“ „Aber zur Sicherheit werde ich erst einmal meinen Rechtsanwalt konsultieren.“

 

„Habt ihr eigentlich bemerkt, kurz vor der Trauerfeier für unsern Bruder fand noch eine andere Beerdigung statt? Eine armselige Sache; nur der Pfarrer und die Friedhofsangestellten gingen mit dem Sarg, sonst niemand.“ „An der Totentafel stand etwas von einem gewissen Lazarus.“ „Lazarus,– war das nicht der Bettler, der immer vor der Haustür unseres Bruders herumlungerte?“ „Ja, natürlich, dieser zerlumpte Kerl. Sein Gesicht war ganz vernarbt und eitrige Beulen hatte er an seinen Händen. Eigentlich hätte er ins Krankenhaus gehört.“ „Nein, den nimmt kein Arzt auf; der war nicht privatversichert!“ „Wovon lebte er wohl?“ „Keine Ahnung. Vielleicht von leeren Pfandflaschen aus den Abfalleimern. In den Mülltonnen unseres Bruders hat er auch immer wieder nach essbaren Resten gesucht, bis dieser es ihm untersagte. Containern verboten, sagte er.“ „Recht hatte er. Wenn du solchen Leuten hilfst, lockst du nur noch weitere an. Das ist so ein Pull-Effekt: Morgen sind es dann zwei, übermorgen schon vier, dann acht und bald werden wir alle von diesen Leuten überschwemmt.“ „Man darf die Faulheit von solchen Sozialschmarotzern nicht noch unterstützen. Uns wurde doch auch nichts geschenkt. Nur, wer etwa leistet, kann sich auch etwas leisten.“ „Lazarus – wie kann so einer nur Lazarus heißen. Ich erinnere mich, der Name bedeutet: Gott hilft. Von Gottes Hilfe hat er aber nichts gespürt. Nur die Gassenköter schienen Mitleid mit ihm zu haben, wie sie um ihn herumstrolchten und seine Wunden leckten, so wie sie es sonst mit ihresgleichen tun.“ „Das Beste, was ihm passieren konnte, ist, dass er nun tot ist.“

 

„Sprechen wir lieber von unserm Bruder. Wo er jetzt wohl ist?“ „Unter der Erde natürlich.“ „Ja, aber ist das alles?“ „Das ist alles, dann kommt nichts mehr. So wie beim Computer: Du ziehst den Stecker raus, und Schluss.“ „Ich weiß nicht. Und wie ist das mit der Seele? Als Kinder haben wir früher gesagt: Der Opa ist jetzt im Himmel.“ „Oder in der Hölle.“ „Mach keine Witze.“ „Manchmal ist das Leben hier auf Erden schon wie die Hölle, da braucht es gar kein Jenseits.“ „Am besten wäre, es käme jemand nochmals zurück und könnte berichten, wie es da drüben aussieht.“ „Sag mal, warum interessierst du dich so sehr dafür? Mir ist das alles völlig wurst. Ich halte mich eher an das Motto ‚Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang.‘“ „Da bist du aber nicht sehr erfolgreich gewesen, mit Ausnahme vom Wein.“ „Ach, lasst das! Bitte, versteht mich recht: mir es geht vielmehr um die Frage der Gerechtigkeit. Ist es wirklich gleichgültig, wie jemand gelebt hat, alles vollkommen gleich? Ein Hundeleben wie dieser Lazarus oder eine Erfolgsgeschichte wie unser Bruder, alles völlig gleich?“ „Im Tode sind alle gleich, alles vorbei.“ „Dann wäre aber auch alles sinnlos! Es müsste doch so etwas geben wie eine letzte Instanz, eine ausgleichende Gerechtigkeit.“ „Meinst du etwa Gott? Bist du plötzlich fromm geworden?“

 

„Wisst ihr, bei der letzten Computermesse fand ich im Hotelzimmer eine Bibel. Seit meiner Konfirmandenzeit habe ich dieses Buch nicht mehr in die Hand genommen. Gedankenlos blätterte ich darin. Da blieben meine Augen an einem Satz hängen, ich glaube, bei einem der Propheten: Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben. (Hesekiel 11,19) Das hat mich seither nicht mehr losgelassen. Ein steinernes Herz? Bin ich etwa auch versteinert? Ist das der Preis unserer Karriere, die Folge des Schutzschirms, mit dem wir uns das Leid anderer vom Hals halten? Nur noch wie Computer agieren und reagieren wir, funktionieren höchst effizient. Wir haben eine künstliche Intelligenz geschaffen, und sind dabei, unsere menschliche Identität zu verlieren: Ein Herz, das sich freuen kann oder traurig ist, das sich sehnt, geliebt zu werden, und glücklich ist, anderen Liebe zu schenken. Das alles können Algorithmen nicht. Aber wir sind keine Maschinen, sondern Menschen!“ „Ja, aber …“ „Bitte, lass mich ausreden. Wir sitzen hier und reden und reden, von unserm Bruder und was nach dem Tode kommt. Aber ist jemand hier traurig? Hat auch nur einer dem Rainer eine Träne nachgeweint? Haben wir ihn geliebt? Oder ihn jemals umarmt? Und dieser Lazarus, wenigstens eine Spur von Mitleid hätte ihm auch gutgetan. Vielleicht sollten wir die Frage, was nach dem Tode kommt, ruhig Gott überlassen. Er wird schon wissen, was er macht, er ist gerecht und barmherzig. Viel mehr aber sollte uns beschäftigen, ob wir heute, im Diesseits ein lebendiges, mitfühlendes Herz haben. Sind wir gerecht? Sind wir barmherzig? Die Gelegenheit haben wir noch dazu. Später ist es zu spät. Übrigens: ich fand noch ein anderes Bibelwort, es steht irgendwo bei Mose: Wenn einer deiner Brüder arm ist, … so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten, sondern sollst sie ihm auftun und ihm geben, soviel er Mangel hat. (5. Mose 15, 7-8) Na, was meint ihr?“     

 

„Jetzt redest du aber wie ein Pfarrer; bleib auf dem Teppich, Kleiner.“ „Aber eigentlich hat er schon recht.“ „Man sollte einmal darüber nachdenken.“ „Aber ich muss jetzt aufbrechen. Im Stadtrat werden wir heute über Sparmaßnahmen beraten.“ „Und auf mich wartet der Aussichtsrat.“ „Ich habe noch Gespräche wegen eines Vereinswechsels.“ „Und ich muss noch einen Computerfehler beheben.“ „Also, machen wir weiter. Beim Testamentsvollstrecker sehen wir uns wieder.“ „Machen wir weiter, wie bisher oder anders?“ – Der fünfte Bruder oder Schwester hat die ganze Zeit nur still zugehört und sich so seine, ihre Gedanken gemacht. Nun, wie geht es bei dir und bei mir weiter? 

Amen.

Predigt zum Sonntag Rogate, 25. Mai 2025 in St. Markus und im Gemeindehaus

 

Jesus sprach zu seinen Jüngern: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch; wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei. Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Stunde, dass ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater. An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde; denn er selbst, der Vater hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“ Sprechen zu ihm seine Jünger: „Siehe, nun redest du frei heraus und nicht in einem Bild. Nun wissen wir, dass du alle Dinge weißt und bedarfst dessen nicht, dass jemand dich fragt. Darum glauben wir, dass du von Gott ausgegangen bist.“ Jesus antwortete ihnen: „Jetzt glaubt ihr? Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Dieses habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Johannes 16, 23b-33, Evangelium für den Sonntag Rogate)

 

Musikstück. „Ich bete an die Macht der Liebe …“

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, habt ihr sie erkannt, die Melodie? Erst neulich war sie zu hören bei der Verabschiedung von Kanzler Scholz mit dem Großen Zapfenstreich von der Bundeswehr. Vielleicht habt ihr auch die Feier im Fernsehen mit verfolgt. Es ist eine gute Sitte, mit diesem militärischen Zeremoniell bedeutende Persönlichkeiten zu ehren, ein Ritual mit langer Tradition. Das ist sicher sinnvoll und beeindruckend: Fackeln zu abendlicher Stunde, Spielmannszug, Soldaten, die ihr Gewehr präsentieren, Trommelwirbel und Pfeifer. Dann der Befehl „Helm ab zum Gebet“ und diese Melodie. Kennt ihr auch den dazugehörigen Text? „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart; ich geb‘ mich hin dem freien Triebe, womit ich Wurm geliebet ward; ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken.“ Ein Gebet mitten in diesem militärischen Kontext. Passt das zusammen? Passt das überhaupt noch in unsere säkularisierte Welt, die doch ganz gut auch ohne Gott leben kann? Und dazu noch diese alten Worte, die so seltsam für moderne Ohren klingen. Eigentlich müsste man protestieren: Halt, halt! Wisst ihr eigentlich, was ihr da macht, was ihr da hört? „Die Macht der Liebe“ – Besingt doch lieber die „Liebe zur Macht“! Das prägt weithin das Miteinander der Menschen, manchmal schon in den Familien, in den Strukturen von Beruf, Politik, auch Kirche, und bis hin zu den Spannungen zwischen Völkern und Nationen. Dafür braucht es Waffen, Hierarchien, Rituale, Befehle, Gehorsam. Aber Gebete? - - - Oder doch? Gerade deshalb doch: Helm ab zum Gebet. Rogate, ja rogate, betet! Dieser heutige Sonntag ruft es uns zu, macht uns Mut, mitten in dieser verrückten Welt, dieser so schönen und doch so gefährdeten Welt: Betet! Und als Anleitung dazu soll uns nun dieses Lied dienen, ebenso wie das heutige Evangelium aus den Abschiedsreden Jesu.

 

1. Beten ist heilsame Unterbrechung.

Das Gebet, zunächst wie ein Fremdkörper in den Ritualen dieser Welt, ist bei näherem Hinsehen doch von größter Bedeutung. So sehr auch eine Armee nicht ohne militärischen Drill sein kann, so sind Soldaten doch keine Marionetten oder seelenlose Kampfcomputer. Darum: Helm ab zum Gebet! Mach deinen Kopf frei, bedenke, bevor es weitergeht: Du bist ein Mensch, kannst denken, kannst beten. Du bist geliebt von Gott und ihm verantwortlich in allem, was du tust oder auch nicht tust. Heilsame Unterbrechungen – wir alle brauchen sie immer wieder, auch wenn wir keine Soldaten sind. Wie oft heißt es: Du musst funktionieren, wie eine Maschine – tack, tack, zack, zack. Andere geben den Rhythmus vor, und nur wer mithalten kann, ist etwas wert. Das Gebet aber eröffnet uns eine ganz andere, neue Dimension: Du bist ein Kind Gottes, frei und mit unverlierbarer Würde, unabhängig davon, ob du etwas leistest oder versagst. Niemand kann dir das nehmen. Heilsame Unterbrechungen – wie wichtig doch angesichts der angeblich alternativlosen Automatismen dieser Welt: Schimpfwort auf Schimpfwort, Hass auf Hass, und wer mir Angst macht, dem werde ich das Fürchten lehren. Helm ab zum Gebet: Gott, es muss doch noch andere Möglichkeiten geben, zeige sie mir! Befreie mich vom Zwang, nur das zu machen, was üblich ist oder von mir erwartet wird, und dabei mein wahres Wesen zu verraten.

 

Lied: „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart.
Ich geb mich hin dem freien Triebe, womit ich Wurm geliebet ward.
Ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken.“

 

2. Beten stiftet Gemeinschaft.

So sehr das Gebet eine ganz persönliche, ja intime Angelegenheit ist, verbindet es zugleich alle Betenden miteinander und kann aus Fremden Freunde machen. Das lässt sich auch an der Entstehungsgeschichte dieses Liedes ablesen: Gedichtet wurde es 1750 von Gerhard Tersteegen, einem Bandweber, Laienprediger und Mystiker vom Niederrhein. Johannes Goßner, ein erst katholischer, später evangelischer Pfarrer aus Bayrisch-Schwaben, brachte den Text mit nach Russland, wo er 1820 eine Gemeinde in St. Petersburg übernahm. Dort kam die heutige Melodie hinzu. Sie ist von Dmitri Bortnjanski, einem Musiker aus der heutigen Ukraine. Schließlich fanden Lied und Melodie ihren Weg an den Hof des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Bei einem Staatsbesuch von Zar Nikolaus I. in Berlin 1838 war der König so beeindruckt davon, wie die russischen Soldaten den abendlichen Zapfenstreich mit einem Gebet beendeten, dass er verfügte, solches habe künftig auch in Preußen zu geschehen. Den preußischen Staat gibt es zwar nicht mehr, auch keinen König, keinen Zar, aber „Helm ab zum Gebet“ heißt es auch heute noch überall in Deutschland, wo der Große Zapfenstreich gespielt wird.

 

Menschen vieler Traditionen und Nationen waren also an der Entstehung dieses Liedes beteiligt. Und noch viel mehr haben es seither gebetet und gesungen. „Ich bete an die Macht der Liebe“. Warum ist aber von der Macht der Liebe so wenig zu spüren unter denen, die so beten? Ist der Gott der Liebe etwa nur für die einen zuständig und für die andern nicht? Wer betet, gehört zusammen, wie Angehörige einer Familie, sei es in Kiew oder Moskau, Jerusalem oder Gaza, und an noch vielen anderen Orten dieser Erde. Als ich 2004 in den Ruhestand verabschiedet wurde, saßen in Kirche in der ersten Bankreihe zwei meiner Enkel: Matteo von meinem ältesten Sohn und Nico von jüngeren, beide im Kindergartenalter, und ich vor ihnen an der Kanzel. Das ist mein Opa, rief der eine. Nein, mein Opa, der andere. Nein, meiner, nein, meiner! Schließlich einigten sich beide und sagten stolz: Das ist unser Opa. Kinder sind doch manchmal klüger als die Erwachsenen. Gebet stiftet Gemeinschaft, möchte Gemeinschaft stiften. Es gibt dafür auch positive Beispiele: In den Sitzungswochen des letzten Bundestags trafen sich regelmäßig jeden Freitagmorgen Politikerinnen und Politiker aller Fraktionen zum einem ökumenischen „Gebetsfrühstück“. Das hatte Folgen im Umgang miteinander. Ob das bei der jetzigen Regierung auch so sein wird, ist noch nicht bekannt. Es wäre aber zu wünschen. Gebet verbindet, – und das gilt auch für uns, die wir heute hier versammelt sind.  

 

Lied: „Wie bist Du mir so zart gewogen, wie sehnet sich Dein Herz nach mir!
Durch Liebe sanft und tief gezogen, neigt sich mein Alles auch zu Dir.
O traute Liebe, Du mein Leben, hast Dich für mich ganz hingegeben.“

 

3. Beten verursacht schmerzhafte Erkenntnis.

Es sind nicht immer nur Glücksgefühle, die sich beim Gebet einstellen. Manchmal ist es auch wie der Blick in den Spiegel nach einem verkaterten Abend: Was, bin ich das wirklich? So zerknittert, müde und unattraktiv. Gott, ich bete und singe ich laut von der Liebe, mache große Glaubensworte – und wenn ich ehrlich bin, ganz ehrlich, sieht mein Leben doch ganz anders aus. Wie vollmundig haben die Jünger zu Jesus gesagt: Ja, Herr, wir glauben, wir verstehen jetzt alles, du kannst dich auf uns verlassen. Und er antwortet: Ja, verlassen, allein lassen werdet ihr mich alle, wenn die Stunde der Bewährung kommt. Als die Bundeswehr nach 20jährigem Einsatz in Afghanistan zurückkehrte, wurde auch der Große Zapfenstreich gespielt: „Ich bete an die Macht der Liebe“. Was haben wohl die Soldaten dabei gedacht? Ja, es war ein großartiger Einsatz mit vielen Opfern, alles im Namen von Demokratie und Menschenrechten. Doch dann dieser hastige Aufbruch, fast wie eine Flucht, und die einheimischen Mitarbeiter mussten wir zurücklassen, die sind nun allein. Gut gemeint und doch gescheitert. Nein, hier geht es nicht um eine Schelte an die Bundeswehr; die Soldaten verdienen alle Anerkennung. Hier geht es darum, dass wir alle vor Gott immer wieder zur Selbsterkenntnis kommen: Ich bin nicht die Lichtgestalt der Nächstenliebe, der Glaubensheld mit unerschütterlichem Gottvertrauen und nicht der coole Typ, der über Ängste nur lachen kann. Das bilde ich mir nur ein, manchmal bin ich es vielleicht auch, und dann wieder auch gar nicht. Diese Erkenntnis tut weh, ist aber heilsam. Ich bin ein Wurm, dichtete Tersteegen. Das sind wahrscheinlich nicht mehr unsere Worte. Aber es gibt Stunden, in denen wir uns so fühlen und ganz unten sind, auch und gerade vor Gott. Ich denke wir kennen das. Aber Gott hat die Würmer besonders lieb.

 

Lied: „Für mich ist ewig Herz und Leben, Erlöser, du mein einzig Gut;

du hast für mich dich hingegeben zum Heil durch dein Erlöserblut.

O Heil des schweren tiefen Falles – für mich ist ewig Herz und alles.“

 

4. Beten wird zur Quelle, Gott zu finden.

Die Worte des heutigen Evangeliums sind Worte des Abschieds. Schon wenige Stunden später wird Jesus verhaftet, verurteilt, hingerichtet. Da sind seine Worte von besonderer Bedeutung. Was ist jetzt künftig wichtig für die Jünger Es wird für sie nicht einfach sein. Was ist für uns wichtig? Wir ahnen: Auch unsere Zukunft wird kein leichter Spaziergang sein, ganz persönlich für jeden einzelnen, aber auch für unsere Kirchen und Gemeinden, ja für die Gesellschaft insgesamt. Jesus musste seine Jünger verlassen, und auch wir habe ihn nicht mehr sichtbar in unserer Mitte und rufen oft: Gott, wo bist du? Wir brauchen dich! Jesus sagt in seiner Abschiedsstunde allen: Betet! Und: Er selbst, der Vater hat euch lieb! Und: In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. Damit müsst ihr auskommen. Damit werdet ihr auskommen. Und so tiefste Geheimnis Gottes erkennen: Liebe. Wer sich von ihr berühren lässt und sie weiterträgt, der hat Gott gefunden und in ihm auch sich selbst. Amen.

 

Lied: „O Jesu, dass Dein Name bliebe im Grunde tief gedrücket ein!
Möcht Deine süße Jesusliebe in Herz und Sinn gepräget sein!
Im Wort, im Werk, in allem Wesen sei Jesus und sonst nichts zu lesen.“


Predigt über Maria und Pilatus in Text des Glaubensbekenntnisses

am 6. April 2025 in St. Lukas und Großmehring

Rudolf Potengowski

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! Sonntag für Sonntag wird in den Kirchen das Glaubensbekenntnis gesprochen. So haben wir es soeben auch getan. So geschieht es vielmillionenfach in allen Ländern und Sprachen der Erde. So erklingt es bei der Taufe, der Konfirmation oder am Grab. Und jedes Mal werden dabei auch zwei Namen genannt, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: Maria und Pilatus.

 

 „Ich glaube an Jesus Christus, … geboren von der Jungfrau Maria,

 gelitten unter Pontius Pilatus …“

 

Beide in ganz unmittelbarer Nachbarschaft. Warum wohl? Und warum gerade diese beiden? Nicht Petrus oder Johannes, nicht Lukas und auch nicht Judas, und Paulus oder Martin Luther natürlich auch nicht. Nur Maria und Pilatus. Gut, bei Maria können wir es noch verstehen, sie ist ja schließlich auch Jesu Mutter. Aber ausgerechnet Pilatus, Pontius Pilatus, der nur eine kurze, aber schlimme, folgenreiche Begegnung mit Jesus hatte? Und welche Bedeutung haben diese beiden für uns, heute und hier? Haben sie überhaupt eine Bedeutung für uns? Dazu eine dreifache Antwort:

 

1. Der Glaube hat es mit Geschichte zu tun. Jesus ist keine Gestalt eines Fantasy-Romans. Das Reich der ewigen Ideen und mythischen Erzählungen ist nicht sein Zuhause. In der konkreten und harten, zuweilen sehr harten Realität dieser Welt ist er anzutreffen. „gelitten unter Pontius Pilatus“ – Das Imperium Romanum mit seinem Glanz und seinem Elend ist der Ort seines Wirkens und Leidens. Dort, wo Kaiser Tiberius fast die ganze damals bekannte Welt beherrschte, – die Spuren seiner Militärlager und Siedlungen sind heute noch bei uns zu finden –, wo seine Soldaten immer wieder neu in brutale Kriege und Aufstände verwickelt waren, wo eine Vielzahl von Philosophien und Religionen existierten, da wurde Jesus geboren, lebte er, hat gelitten, starb und ist auferstanden. So kam es denn auch zur Begegnung mit Pontius Pilatus, dem Statthalter der Provinz Judäa in den Jahren 26 bis 36, jenem, der gleichsam das ganze römische Reich in seiner eigenen Person verkörperte. Und er war nicht gerade zimperlich, wenn es galt zu zeigen, wer das Sagen hatte. Da ist der Ort, an dem sich Gott in Jesus Christus antreffen lässt.

 

Auch heute will uns der Glaube nicht entführen in ein Wolkenkuckucksheim, fern aller irdischen Wirklichkeit mit ihren Sorgen und Nöten. Im Alltag, in den täglichen Nachrichten aus aller Welt und den Ereignissen unserer unmittelbaren Umgebung ist Gott da, als der ganz andere und doch mitten drin. Da will er uns begegnen. Und da ist auch unser Platz als seine Gemeinde, mitten in dieser Welt. Da sind wir gefordert, Zeugen seiner Wahrheit zu sein, Boten seiner Liebe und Menschen, die ihm nachfolgen, auch im Leiden. Dietrich Bonhoeffer, dessen 80. Todestag sich am kommenden Mittwoch jährt, ist ein eindrucksvolles Beispiel für einen solchen weltzugewandten Glauben in der Nachfolge Jesu. 1934 sagte er z.B. anlässlich einer ökumenischen Tagung: „Friede muss gewagt werden. Die Stunde eilt – die Welt starrt in Waffen und furchtbar starrt das Misstrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden - worauf warten wir noch?“ Und nach der Reichsprogromnacht 1938 forderte er: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Das war ein Glaube, der sich den Herausforderungen seiner Zeit stellte, bis zur letzten Konsequenz. „gelitten unter Pontius Pilatus.“  

 

 Und Maria? Die Historiker berichten nichts von ihr. Ihr persönliches Geschick war uninteressant für die Machthaber jener Tage. so wie es auch den meisten Menschen heute ergeht. Und dennoch: auch ihr Leben, auch unser Leben ist reich an Geschichten, Erlebnissen, Erfahrungen. „geboren von der Jungfrau Maria“ – Ein Kind gebären, großziehen, Hoffnungen, Enttäuschungen, am Grab stehen – ganz reale Geschichten des Alltags. Und zugleich sind sie Geschichten mit Jesus. Auch für uns und die vielen Namenlosen dieser Tage gilt: Jesus ist mitten drin, er will sich hier bei uns finden lassen. Glaube hat es immer mit Geschichte, auch mit unserer Lebensgeschichte zu tun.

 

2. Der Glaube hat es mit Menschen zu tun. Maria und Pilatus – was für ein Gegensatz! Hier eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, wird schwanger und bringt ihr erstes Kind zur Welt, – und dort ein Mann im Zenit seiner Jahre, erfolgreich auf dem Weg seiner Karriere zur Macht, bekannt, gefürchtet, ein Richter über Leben und Tod. Hier eine Jüdin, Angehörige eines verachteten, oft verfolgten Volkes, – und dort der stolze Römer, schon von Geburt an zum Herrschen berufen und in den höchsten Gesellschaftsschichten zuhause. Hier Maria, in dem Glauben ihrer Väter und Mütter und in den Überlieferungen des Volkes Israel beheimatet, – und dort Pilatus, geprägt von den Traditionen der römischen Geschichte, des Geisteslebens und der Rechtsnormen. Was für ein Gegensatz! In diesen beiden repräsentiert sich die ganze Menschheit in ihrer Vielfalt und Gegensätzen. Aber eines eint sie: Sie sind Menschen, von Gott geschaffen, mit Sehnsucht nach Glück und Liebe, voll Hoffnungen und Ängsten, haben gute Seiten und machen Fehler, erfreuen sich an Erfolgen und erleiden Niederlagen. Wir alle sind Menschen. Und als solche begegnen wir Jesus, wie damals Maria und Pilatus. Er fragt nicht: Zu welcher Gruppe gehörst du? Was sind deine Traditionen? Welchen Stand oder Beruf hast du? Ihn interessiert nur der Mensch, nur der Mensch.

 

Ecce homo! Sehet, welch ein Mensch! sprach Pilatus, als Jesus vor ihm stand, geschlagen, verhöhnt, in der ganzen Erbärmlichkeit eines Opfers brutaler Gewalt. War etwa Pilatus von Jesus beeindruckt? Oder drückte er damit nur seine Verachtung aus? Wir wissen es nicht. Aber wir erkennen:  Bis in die letzten Tiefen hinein ging Jesus in seiner Menschwerdung, ein Bruder für alle, die gleich ihm misshandelt, entehrt und ihrer Menschenwürde beraubt werden. Da ist er! Sehet, welch ein Mensch! Und zugleich wird dieser Satz zur Anfrage an Pilatus und an uns alle: Was für ein Mensch bist du? Ein Mensch und Mitmensch für andere?

 

3. Der Glaube hat es mit dir und mir zu tun. Gedankenlos sollten wir eigentlich nicht sprechen: „… geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus …“ Denn in diesen Worten steckt eine ganz persönliche Frage, die Antwort von uns fordert: Wer ist dieser Jesus für dich?

 

Etwa so wie bei Maria, deren Leben untrennbar mit Jesus verbunden war? Jemand, in der der Gottessohn Wohnung nehmen konnte, und die dabei doch ein Mensch blieb, mit allen Schwächen, Zweifeln und Missverständnissen? Eine, die in ihrer Hingabe an Gott großes Glück und Freude erfuhr, aber die auch durch großes Leid hindurchmusste? Es lohnt sich, sich auch als Evangelische mehr mit Maria zu beschäftigen – schon allein ihre Erwähnung im Glaubensbekenntnis sollte uns dazu veranlassen. Sie ist nicht die Überirdische, Gottgleiche. Sie ist eine Schwester im Glauben und ebenso uns auch nahe in allen Anfechtungen. Gleichsam auf Augenhöhe können wir ihr begegnen, in ihrem Geschick uns wiederfinden und mit ihr zusammen mit Jesus verbunden sein.

 

Oder ist uns Pilatus näher? Verantwortlich für Recht und Ordnung, eingebunden in Pflichten und Rücksichtsnahmen, stets abhängig vom Wohlwollen des Vorgesetzten, des Kaisers in Rom. Vielleicht war er angerührt von dem so sonderbar Anderem, der so gar nicht in die Kategorien seines Lebens passte. „Was ist Wahrheit?“ Er konnte sich nicht eindeutig festlegen, wollte auch nicht, suchte nach Kompromissen, wusch sich dann die Hände: Ich bin nicht schuld! Er kommt uns doch in vielen Dingen so bekannt vor; wir sollten ihn nicht verurteilen. Das steht allein Gott zu. Seltsam nur, dass die äthiopisch-orthodoxe Kirche ihn sogar in ihrem Heilgenkalender auflistet. Will sie damit sagen, dass die Begegnung mit Jesus auch für ihn Folgen hatte, wie auch immer, und dass dadurch auch er seinen Platz hat im Plan Gottes mit den Menschen?

 

Wem gleichen wir mehr? Maria oder Pilatus, oder beiden? Mal so, mal so, oder ganz anders? Entscheidend ist, dass dieser Jesus uns begegnen will, wenn wir das Glaubensbekenntnis sprechen, und so fragt er uns: Wer bin ich, für dich? Können wir, wollen wir antworten mit Martins Luthers Auslegung im Kleinen Katechismus: „Ich glaube, dass Jesus Christus, vom Vater in Ewigkeit geboren und von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr“? Ja, mein Herr! Amen.